Dass uns modernes Regietheater noch angenehm überraschen kann, ist nicht oft zu erleben. Evgeny Titov, in Kasachstan geboren und bereits am Münchner Residenztheater tätig sowie nun erstmals mit einer Inszenierung betraut an der Bayerischen Staatsoper, setzt in Mozarts Le nozze di Figaro gleich zu Anfang ein Ausrufezeichen! Einen Ouvertüren-Streich gar, denn der rote Bühnenvorhang bleibt geschlossen, tausend Töne von Mozart lang. Keine Übertitelungen zum Vorspiel, Videos verwirrender Verständnishilfen gestrichen. Nur Mozarts Musik, die mehr als tausend Worte sagt.

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Avery Amereau (Cherubino), Louise Alder (Susanna) und Elsa Dreisig (Gräfin Almaviva)
© Wilfried Hösl

Stefano Montanari und das Bayerische Staatsorchester nahmen die Chance auf und stürzten sich in eine rasant virtuose Fahrt durch die Ouvertüre. Montanari, bereits Barockgeiger und Konzertmeister an der Accademia Bizantina Ravenna und bereits in acht Figaro-Produktionen tätig, wählte auch im Folgenden eher geschwinden Puls der Musik, wechselte behände zwischen markantem Dirigat mit ausladender Gestik und Begleitung der Rezitative durch prickelnde Klangkaskaden vom Fortepiano. Da entfalteten die Dialoge ein Höchstmaß an Brillanz und Witz. Das Orchester folgte ihm bewundernswert flexibel, mit rundem spritzigem Klang, der hörbar von eigener intensiver Barockerfahrung gespeist wurde, sowie wunderbaren Soli in der Begleitung der Sänger. Ein Klangerlebnis, das zuweilen in einen Geschwindigkeitsrausch mündete, aber daneben auch ruhiger Reflexion Raum bot in einzelnen Arien.

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Konstantin Krimmel (Figaro) und Huw Montague Rendall (Graf Almaviva)
© Wilfried Hösl

Evgeny Titov und die Kostüm- und Bühnenbildnerin Annemarie Woods siedeln die Handlung in einem heruntergekommenen Barockschloss an, dessen Wände schon zu viel Patina angesetzt haben; durch eine alte, mit massiven Riegeln gesicherte Holztür spielt sich ein lebhaftes Hin und Her ab. Figaros Reich im ersten Akt ist bühnenbreit, das bequemste wohl im Schloss; das umständliche Ausmessen eher ein Spiel, wie das von Susanna mit dem geschenkten Hut des gräflichen Hausherrn. Figaros Barbierstuhl entpuppt sich bald als veritabler Lustsessel, dessen Automatik ihn eine verführerische Vielfalt von Stellungen anbieten lässt und beim Spreizen der Sitzfläche eine amüsante Sammlung lustfördernder Riesendildos offeriert. Auch das beim Librettisten Lorenzo da Ponte „reich ausgestattete Zimmer“ der Gräfin Rosina strahlt keine Noblesse mehr aus; ein Malergerüst zur Renovierung scheint ungenutzt, ein schräges Klappfenster versprüht Treppenhaus-Charme. Selbst das wuchtig mehrteilige Sofa, in kontrastierendem, pinkfarbenem Plüsch gehalten, erhöht die Wertigkeit des Ambiente nicht.

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Elsa Dreisig (Gräfin Almaviva) und Louise Alder (Susanna)
© Wilfried Hösl

Graf Almavivas Raum umgeben immerhin mahagoni-farbene Holzwände; dazwischen Stahlrohrmöbel wie ein Lederkissen-Sessel und ein Schreibtisch, in dessen Tresor er viel Bares und einen Revolver aufbewahrt. Auf dem Tisch unter Dauerlicht ein Mini-Gewächshaus mit Cannabis-Pflänzlingen; was zunächst noch als schräge Marotte des Grafen erscheint, weitet sich im letzten Akt zur bühnenfüllenden Plantage, in der Da Pontes nächtlicher Garten eine neue Verständnisebene erreicht: der Graf, finanziell offenbar abgebrannt, braucht zusätzliche Einnahmen. Aber auch für den luststeigernden Eigenbedarf im gräflichen Haushalt ist damit gesorgt.

Titov führt all diese Sexspielzeuge zwar vor, lässt es erotisch knistern, bringt sie aber nicht wirklich zum Einsatz. Er interessiert sich vor allem für die Machtfrage: „Wie weit geht einer, wenn man ihn nicht stoppt?“ Graf Almaviva will das alte Feudalrecht, eben erst abgeschafft, wieder einführen, und das gerade zum nächtlichen Treffen mit der jungen Susanna, die den ebenso gutmütigen wie listigen Figaro in Kürze heiraten will. Dieser durchblickt manche Situation anfangs nicht, findet mit den Damen aber eine Versteckposse, die Almaviva am Ende als Gehörnten für seinen Lust- und Machtmissbrauch bloßstellt. Wie in der Kirchenmusik schließlich die gegenseitige Bitte um Vergebung, ein leiser Schein von Versöhnung.

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Konstantin Krimmel (Figaro) und Louise Alder (Susanna)
© Wilfried Hösl

Staatsintendant Serge Dorny möchte für die Da-Ponte-Opern, darüber hinaus für einen Mozart-Zyklus, ein wirklich eigenes Ensemble aufbauen; dies wurde bereits mit dem jugendlichen Cast in Così fan tutte begonnen. Konstantin Krimmel, Avery Amereau und Louise Alder waren schon dort in der Premierenbesetzung dabei. Auch der neue Figaro der Bayerischen Staatsoper ist Bühne eines jungen prominenten Mozart-Ensembles, das stimmlich für Mozart-Wonnen sorgte.

Huw Montague Rendall zeichnete den Grafen differenziert im Ausdruck, mit agil farbenreichem Bariton. Sein elektrisierender Furor hielt Adlige wie Gesinde in Trab, seine große Aria „Hai già vinta la causa” füllte er imposant mit zornigen Rachegedanken. Elsa Dreisig war eine artifiziell ausgefeilte Gräfin; überzeugend bereits ihr erster Auftritt „Porgi amor” zu Beginn des zweiten Akts, vielschichtig ihre Rolle zwischen Enttäuschung und Liebesschmerz.

Louise Alder wusste als Susanna zauberhaft Sanftmut und Überlegenheit zu kombinieren; voll quirliger Spielfreude oder empfindsamer Empathie wie im Duettino „Che soave zeffiretto” mit Rosina. Kernig selbstbewusst legte Konstantin Krimmel seinen Figaro an; manchmal gespielt zerfahren, wenn er die Frisur der Gräfin mit dem Glätteisen ruiniert; verschmitzt wenn er seine Susanna vor dem gräflichen Übergriff beschützen will. Sein wundervoll ausbalancierter Bariton leuchtete gerade in den Ensembles kraftvoll heraus.

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Huw Montague Rendall (Graf Almaviva), Elsa Dreisig (Gräfin Almaviva) und Konstantin Krimmel (Figaro)
© Wilfried Hösl

Cherubino, pubertierender Jüngling in Hosenrolle, der sein Herz vor allem an die Gräfin verloren hat, wurde von Avery Amereau voller Leidenschaft und schön gefärbtem Mezzo-Timbre beeindruckend dargestellt. Ihre Arie „Non so più cosa son” und die Arietta „Voi che sapete” waren voller Nuancen, schilderten bewegend ihren Gefühlstumult. Auch Dorothea Röschmann und Willard White als Marzelline und Bartolo verstanden es, das komödiantische Profil ihrer Partien lebendig und witzig zu modellieren: für Röschmann eine geradezu ideale Rolle!

Herrliche Längen in Mozarts Partitur, beim anregenden Handlungsstrang zwischen Komödie und Absturz angeschlagener Beziehungen pointiert und voller Schönheit. Auf die Fortführung dieses Mozart-Zyklus darf man gespannt sein!

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