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PALERMO/ Teatro Massimo: DON GIOVANNI unter Riccardo Mutis Leitung in Chiara Mutis Inszenierung

27.10.2023 | Oper international

„Voi suonate, amici cari!“ – Don Giovanni am Teatro Massimo, 1. Aufführung der Seria unter dem Baton von Riccardo Muti am 26.10.2023

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Riccardo Muti: Foto: Igo Petyx

 Wenn es so etwas wie die „Mutter aller Opern“ gibt, dann ist es Don Giovanni. Der Prototyp aller Opern, der fast die gesamte Gefühls- und Charakterpalette wiedergibt, die in Folge die Opernliteratur behandeln wird. Da steckt sozusagen alles drin, auch musikalisch, zumindest bis zum Tristanakkord, wobei dieser auch letztlich nur den Auftakt der Ouvertüre zu Don Giovanni weiterentwickelt. Und auch das Genie Mozarts wird in kaum einer Oper des Salzburgers so sehr ausgespielt. Die Herausforderungen, die das Werk dabei mit sich bringt, liegen auf der Hand: Obschon es in leichtem und unterhaltsamen Gewand daherkommt, gilt es, zahlreiche Klippen sicher zu umschiffen. Oftmals entwickeln sich deshalb unangenehme Längen im zweiten Teil der Oper, man wartet sehnsüchtig auf das Kommen des Commendatore, während der Abend zu einem faden Einheitsbrei verkommt. In Wien scheiterte man zuletzt sogar an der Inszenierung, hier wurde das Bühnenbild zum einfallslosen Einheitsbrei einer grauen Gesteinslandschaft, der Mangel an musikalischer Leitung muss dabei nicht weiter erwähnt werden.

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Copyright: Rosselina Garbo

Ein Silberstreif der Hoffnung zieht dann am Horizont auf, wenn Don Giovanni am Teatro Massimo annonciert wird und er wächst rasch zur Verkündigung eines strahlenden Sonnenaufganges heran, wenn die musikalische Leitung niemand anderem als Riccardo Muti anvertraut wurde. Das drittgrößte Opernhaus Europas, das auch eines der schönsten ist, hat die Regie dann auch Maestro Mutis Tochter Chiara anvertraut und so ist die Vorfreude auf diesen Abend entsprechend groß. Chiara Muti gelingt dann mit ihrer Inszenierung der Spagat zwischen zeitgenössischem Ausdruck und Werktreue zum Stück. Die Bühne zeigt das schwarz-weisse Bild eines klassizistischen Palazzos (ist es das Massimo selber?), welches nach vorne hin abgeschrägt abfällt. Die Protagonisten steigen bei ihrem ersten Auftritt aus den Fenstern und immer wieder nutzen sie diese als Türen, um zu fliehen, zu entschwinden und sich zu verbergen. Vor ihrem ersten Auftritt sind sie nur in Unterkleidung zu sehen, die Kostüme werden an Befestigungen von der Decke heruntergefahren. Sie schlüpfen also aus den Fenstern des Palazzos in ihre Kostüme und ihre Rollen. Interessant dabei ist das Detail, dass die Kostüme alle aus anderen Epochen der Kostümgeschichte stammen. Don Giovanni und Leporello sind dabei in Kostüme des Hochbarocks gekleidet, ganz in schwarz, ebenso wie der Commendatore, dieser jedoch in Weiß. Auch Donna Anna und Don Ottavio hingegen bekommen Kleidung aus der Zeit des Sonnenkönigs zugewiesen, Donna Elvira ein Kleid der Bel Époque, Zerlina und Masetto in creme gehaltene Kleidung der 50er Jahre. Das Bühnenorchester im zweiten Akt ist in Kleidung der Renaissance gewandet.

So wird schnell klar, auf welcher Szenerie wir uns hier befinden: Frau Muti zeigt uns die Ruinen eines alten Theaters, die Reste alter Dekorationen hängen immer wieder von den Wänden, unter der abgeschrägten Drehbühne finden sich alte Requisiten, später auch die Statue des Commendatore, die selber nur eine Puppe ist. Denn auch alle Darsteller des Abends sind hier als Puppen inszeniert, die versuchen, mit den Kleidern, die sie sich überstülpen, ein Gesicht, eine Rolle zu finden. Diese Rollen wiederum sind Stereotype und der – für das Publikum nicht sichtbare – Puppenspieler über der Bühne steuert diese, so wie es das Libretto vorsieht. Sie alle kreisen um das Zentrum der Personenkonstellation, in der sie alle wirken, nämlich Don Giovanni, ganz gleich, ob sie es wollen oder nicht. Interessant dabei ist, daß nicht dieser als erster auf der Bühne erscheint, sondern Leporello, der versucht, sich von der Dominanz seines Herrn zu befreien: „Voglio far il gentiluomo, e non voglio più servir“. Was bzw. wer war hier eigentlich zuerst da: Don Giovanni oder Leporello? So oder so können beide nicht ohne einander, Don Giovanni braucht Leporello zur Durchführung seiner Missetaten, Leporello braucht Don Giovanni zur Bestreitung seines Lebensunterhalts.

 

Hinzukommend tauchen immer wieder schwarz verschleierte Frauen auf, die Don Giovanni umlagern, ihn zunächst ermahnen und schließlich zum Ende des Stücks in den Tod ziehen. Diese Gestalten sind seine Gewissensbisse, die ihn plagen, dennoch nicht zu einer Umkehr bewegen können und deshalb seinen Untergang herbeiführen. All diese Personenkonstellationen steigen also aus dem Innern des Theaters vor unser Auge und sind dabei Ausdruck unserer Gedanken, Erfahrungen und Phantasien, ja des Lebens selbst. Frau Muti gelingt es im Laufe des Abends epische Bilder zu schaffen, die von großer Intensität sind. Wir sehen Don Giovanni als Sonnenkönig, der Freiheit verspricht („È aperto a tutti quanti, viva la libertà!“) letztlich aber nur sich selbst dadurch befriedigt (aber nicht befreit). Wir sehen den gigantischen Schatten des Commendatore im Hintergrund alles überlagernd, als Don Giovanni an seinem persönlichen Ende angekommen ist. Und schließlich sehen wir, wie nach der Abwesenheit Don Giovannis die Akteure wieder zu Puppen werden, sich ihrer Kleider entledigen und das Spiel zu Ende geht.

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Copyright: Rosselina Garbo

Frau Muti verneigt sich mit ihrer Inszenierung also nicht nur vor der Bedeutung des Werkes Don Giovanni, eben als „Mutter aller Opern“. Sie entführt uns in die Psychologie des Menschen, die wir einerseits durch die Erstellung von Stereotypen und ihrer Darstellung im Theater zu verstehen suchen. Andererseits zeigt sie unsere Unfähigkeit im Menschsein auf, die es uns trotz des Theaters nicht ermöglicht, aus unseren psychologisch bedingten Verhaltensweisen auszubrechen und eben trotz aller problematischen Beziehungen an ihnen festzuhalten. Eben wie alle um die „Sonne“ Don Giovanni kreisen und trotz erfolgter Rache ohne sie nicht existieren können. So stellt sich auch die Frage, ob das wirkliche Theater nicht unsere eigene Seele mit ihren Abgründen und Höhen ist und das Theater, welches wir besuchen, nur ein Vorwand, um sich mit uns selbst auseinanderzusetzen. So oder so beweist Frau Muti, dass es in exzellenter Art und Weise möglich ist, klassische Werke der Opernliteratur auch zeitgenössisch zu interpretieren, ohne die Werktreue beiseitezulegen und in alberne Ausdrucksformen des unsäglichen „Regietheaters“ abzugleiten. Unbedingt sei vielmehr jenen Vertretern des Regietheaters dringend empfohlen, diese Inszenierung zu besuchen und sich somit ein wenig selbst zu therapieren – anstatt das in den eigenen Inszenierungen zu tun. Beeindruckende Bilder, wunderschöne Kostüme und ein tiefgehendes, klug durchdachtes Konzept führen hier zu einem Hochgenuss für das Auge –  Bravissima Chiara Muti, so wird es gemacht!

Und auch über die Besetzung des Abends ist kein schlechtes Wort zu verlieren. Luca Micheletti bringt einen düsteren, seelisch zerrissenen Don Giovanni auf die Bühne, welcher immer mehr selbst Opfer seiner Missetaten wird. Seine Gewissenbisse führen ihn zunehmend in den Wahnsinn, er verfällt in nahezu hysterisches Lachen, als er Leporello von der misslungenen Verführung seiner Frau berichtet. Gleichzeitig lässt er immer wieder durchscheinen, daß hinter diesem „Wüterich“ Don Giovanni eine sehr stark verletzte Seele steckt, ein in seinem Innersten tief verletzter Mann, der sich nach wahrer Liebe und Zuneigung sehnt, diese aber wohl nie bekommen hat und sie auch nie zu finden scheint. So wird dann auch „Là ci darem la mano“ zu einem tief gefühlvollen Duett, bei dem keineswegs klar ist, ob Don Giovanni hier um der Verführung willen lügt, oder die Worte „Vieni! Vieni!“ tatsächlich aus dem Innersten seines Herzens kommen. Eine grandiose Charakterzeichnung, die durch die Vielseitigkeit des Tenors von Herrn Micheletti abgerundet wird und von überheblichen Triumphklängen bis zu emotionaler Berührung reicht, bravo!

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Copyright: Rosselina Garbo

Demgegenüber ist die Reinheit in Person Francesca di Sauro als Zerlina, wobei sich dieses nicht nur auf ihr exzellentes Spiel, sondern auch auf ihren wunderbar warmen Mezzosporan bezieht. Nicht nur im Duett mit Don Giovanni zeigt sie eine wunderschöne stimmliche Balance. Während „Batti, batti“ kombiniert sie die Unschuld Zerlinas mit durchaus erotisierenden, aber niemals obszönen Anspielungen und lässt den sehr tiefgehenden Charakter Zerlinas hervortauchen. Stille Wasser sind bekanntlich tief und so gelingt es ihr, mit unglaublicher Ruhe und Balance eine Innigkeit an den Tag zu legen, die trotz der Ruhe der Arie voll von Dynamik ist. Hier eröffnet eine junge Frau all ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume, legt dabei ihre Seele in all ihrer Verletzlichkeit offen und lässt das gesamte Haus schlicht dahinschmelzen. So muss Mozart gesungen werden, voll von Leben, Gefühl, Freude und Herzlichkeit, mit einer Stimme, die unschuldig und verführerisch zugleich ist, glockenklar und strahlend. Bravissima Francesca di Sauro!

Mit einer unfassbar lyrischen Stimme ist auch Giovanni Sala als Don Ottavio gesegnet. Und diese nutzt er in hauchzarten Pianissimi vollumfänglich aus. Die Zuneigung dieses Ottavio zu seiner Anna ist so groß und unendlich, dass sie sich butterweich in seinen Arien widerspiegelt. „Il mio tesoro“ ist dann auch ein Höhepunkt der Extraklasse, denn hier greift Mozart schon dem Bel Canto vor und Herr Sala setzt dieses passgenau um – mit sensationellem Ergebnis. Er wird so zum Ideal des romantischen Helden, der sich voller Liebe verzehrt und all sein Wirken in den Dienst des Wohlergehens seiner Donna Anna stellt. Eine grandiose Besetzung also für diese Rolle, gewissermaßen ein positiver Werther, dem es darüber hinaus gelingt, niemals ins kitschige oder langweilige abzudriften. Wir baden in dieser klanglichen Wonne, eingehüllt in einer musikalischen Woge des Glücks, bravissimo Giovanni Sala.

Und auch die restlichen Rollen sind an diesem Abend ganz wunderbar, Alessandro Luongo ist ein Leoporello, der zwischen Gewitztheit und Verzweiflung hin und her pendelt, erkennt, daß er nicht von seinem Herrn Don Giovanni loskommt, egal was er tut und letztlich nur vor seinen Ängsten getrieben ist. Am größten ist dabei nicht die Angst gerichtet zu werden, sondern jene, ohne seinen Herrn durchs Leben gehen zu müssen – eine fabelhafte Umsetzung, die einmal mehr zeigt, daß Angst kein guter Ratgeber ist.

Leo Košavić’s Masetto stellt den eifersüchtigen, klischeehaften Typus Mann dar, der hier in historischer sardischer Tracht mit Beritta auftaucht und rasend vor Wut dem Don Giovanni an die Gurgel will. Ihm gelingt eine handfeste und überzeugende Interpretation, die auch gesanglich zwischen passender Härte und glühender Liebe zu Zerlina hin und her springt.

Als Donna Anna gelingt Maria Grazia Schiavo ein klanglich wunderbar harmonisches Bild, eine Frau, welche fest vom Konstrukt der Ordnung überzeugt ist, ihren Vater gerächt und ihre geschändete Ehre wiederhergestellt wissen will, stimmlich ist sie dabei durch und durch rund und angenehm anzuhören. Insbesondere „O sai chi l’onore“ wird hier zum Bravourstück, denn die Höhen werden eindrucksvoll gemeistert, ohne in das so häufig gehörte Schreien und Kratzen abzurutschen. Stattdessen zeigt sie die Wut dieser Frau in voller Rage und wir schlagen uns bedingungslos in diesem Moment auf ihre Seite. Eine beeindruckende Vorstellung, brava Maria Grazia Schiavo!

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Copyright: Rosselina Garbo

Auch Mariangela Sicilia kreiert eine ganz wunderbar lästige Donna Elvira, deren Verlangen nach Don Giovanni so groß ist, daß sie sich selbst erniedrigt und jedwede Selbstachtung vermissen lässt. Keine einfache Rolle, die Frau Sicilia fabelhaft meistert, denn auch ihr gelingt es, diesen stereotypen Charakter tadellos zu meistern und mit ihrem präzisen Sopran eine exzellente Donna Elvira zu verkörpern.

Selbst der Commendatore, eine zu häufig vernachlässigte Rolle, wird durch Vittorio de Campo mit großer Stimmgewalt umgesetzt. Er ist das Gewissen Don Giovannis, die Vaterfigur, die Ermahnung zur Rückkehr auf den Pfad der Tugend – und das Aufzeigen der Konsequenzen bis hin zur Bestrafung der seelischen und körperlichen Grausamkeiten, die Don Giovanni durchgeführt hat. Sein mächtiger, sonorer Bass strahlt dabei jene Bestimmtheit und Dominanz aus, die diese Rolle benötigt und bei „Don Giovanni a cenar teco m’invitasti e son venuto!“ erzittert wahrlich der gesamte Saal.

Und es wäre natürlich nicht Riccardo Muti, wenn bei genau dieser Stelle die Spannung bis ins Unermessliche steigt, ja, das Werk erinnert geradezu an einen Hollywood-Blockbuster. Und das gilt auch für den Rest des Abends: Bereits die ersten Takte der Ouvertüre sitzen an diesem Abend wie angegossen. Und im Laufe des Abends schneidert Maestro Muti einen italienischen Maßanzug des Klangs für jeden einzelnen Sänger. Das Resultat ist eine klangliche Kollektion, die ihresgleichen sucht. Das ist niemals langweilig, höchst präzise erarbeitet und in jedem Detail fein ausgearbeitet. Kein Instrument verschwindet, jeder Ton ist gut hörbar, jede Singstimme wird vom Orchester getragen und noch weiter veredelt, so daß sie uneingeschränkt wirken und sich in unser Herz vorarbeiten kann.

Keine Frage, der Don Giovanni ist dem zweiundachtzig jährigem Ricardo Muti ins Blut übergegangen. Ganz lässig und entspannt sitzt er im Orchestergraben, nur kleine Andeutungen genügen ihm um das komplexe Zusammenspiel von Orchester, Sängern, Chor und Bühnenorchester zusammenzuhalten und etwas Unvergessliches zu schaffen. Voller klanglichem Reichtum, riesiger Dichte die gleichzeitig jeden einzelnen Ton transparent macht, kompositorische Zusammenhänge aufzeigt und erst wirklich verdeutlicht, welche Bedeutung der Don Giovanni für die Musikgeschichte eigentlich hat. An diesem Abend ist in Don Giovanni tatsächlich alles drin, was Oper als Kunstform zu bieten hat und wir verneigen uns vor diesem Grand Seigneur, vor der lebenden Legende Riccardo Muti. Bravo, bravissimo Maestro Muti, bravissimi tutti, grazie Palermo – ein Abend der Extraklasse! 

E.A.L.

 

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