Wo bleibt die Häutung der Schlange? Oder: „La Forza del Destino“ am Royal Opera House

 

La forza del destino/ ROH 2023/S. Radvanovsky Foto © Camilla Greenwell

Die Premiere der Londoner La Forza del Destino im Jahr 2018 löste damals einen kleinen Aufruhr aus: auf der Seite eines verbotenen Drittanbieters wurden Einzelkarten für bis zu ₤3500 verkauft. Dieser Wucher bleibt bei der diesjährigen Wiederaufnahme aus – nicht jedoch einige Frustrationen der Inszenierung und zum Glück erhabene musikalische Leistungen. (Besuchte Vorstellung am 06.10.2023)

 

 

Während der Ouvertüre stirbt ein Kind. Grundlos, wie es scheint; gerade spielte er noch, dann fällt er tot vom Tisch. Dieser jüngere Bruder von Carlo und Leonora di Vargas, den Regisseur Christof Loy dazudichtete, hinterlässt ein klaffendes Loch in der Familie. Die Stimmung versäuert; die hinterbliebenen Kinder Carlo und Leonora schlagen sich über Nichtigkeiten, wer zuerst am Fenster gucken darf. Manche Leben verdirbt das Schicksal von Anfang an. Angelehnt an diese Idee spielt auf der Hinterwand dieses unheilvollen Esszimmers ein Video den Tod des Vaters der Geschwister, des Marchese di Calatrava, noch bevor er wenige Momente später versehentlich erschossen wird. Ob das als wortwörtliches Kopfkino dient, vielleicht das der entsetzten Leonora, die dem Streit hauptsächlich zusieht, oder als Manifestierung der titulären „Kraft des Schicksals“ – das Furchtbare wird geschehen; erst zu spät erahnt man, was geschehen wird, wenn der Stein schon längst rollt – bleibt die weiteren Akte über unklar. Der Film wird zwar immer wieder gezeigt, jedoch ohne auf die Frage nach der Macht vorprogrammierter Ereignisse einzugehen.

Nach diesem Doppeldesaster im ersten Akt wird das Esszimmer von heiteren Speisenden in modernem Dress übernommen, die fröhlich das Fortbestehen des Krieges besingen – ausgerechnet also die, die bei frischgebackenem Brot und gebügelten Kleidern nichts mit den Gräueln des Krieges zu tun haben. Auch in allen weiteren Akten verlässt man nie dieses Zimmer, in dem das Leben der Familie di Vargas und das des Don Alvaro einst komplett aus der Bahn geworfen wurde. Möglicherweise eine Reflektion der Tatsache, dass fast keine charakterliche Entwicklung der Hauptpersonen stattfindet, eine Art psychologische Entwicklungshemmung ausgelöst durch den für alle traumatischen Tod des Marcheses – oder einfach nur eine Reflektion der bekannten Loy’schen Vorliebe für weiße Wände. Genauer lässt sich das leider nicht sagen. Weiße Wände als Symbol verstecken sich gern im Vordergrund; in diesem Fall kann man sie mangels aussagekräftiger Kostüme und prägnanter Richtungen viel zu liberal interpretieren.

La forza del destino/ ROH 2023/ Foto © Camilla Greenwell

Auch der Umgang mit dem Thema Krieg bildet in Verdis Forza ein Problem, das wenige Regieführende zu lösen vermögen. Das gelegentlich eingeblendete Elend der verarmten Bauern, denen der Krieg die Felder verwüstet hat, und das der jungen Rekruten, die mit Angst und Heimweh kämpfen, wirkt von Natur aus unwirklich und wird vom johlenden Chor schnell beiseitegeschoben. Während dieser kriegsverherrlichenden Chöre reicht einzig die Kleidung der Gesellschaft auch nicht für einen bissigen Kommentar über Kriegsprofiteure im Wohlstand aus. Stattdessen wirkt die Szene durch Loys Hand möglicherweise noch dissonanter und gestellter als von Verdi gewollt, leider ohne Auflösung in einem bestimmten Sinn. Ohnehin schlich sich mit der Nachkriegszeit ein Problem in alle Forza-Inszenierungen: in der Entstehungszeit Forzas kämpfte Italien noch um ein vereintes Land. Die damalige Attitüde zum Krieg und die Art, einen zu kämpfen, waren vermutlich fundamental anders, ganz zu schweigen von der Zeit, in der die Oper tatsächlich spielt – zwei Weltkriege und die Verwüstungsspur durch den mörderischen Nationalsozialismus in Europa später assoziiert man viel Düstereres mit Kriegsverherrlichung. Auch Loys Inszenierung rasselt in diese Schwierigkeit: das Wegducken einiger Choristen von einem Scheinwerferlicht, das ihre Gesichter während des Rataplan-Marsches absucht – während Otto Normalbürger den Krieg bejubelt, will er doch nicht in seine Gräuel reingezogen werden – reicht leider nicht als Lösungsansatz für diesen wuchtigen Elefanten im Raum. Man wartet stets, dass sich diese Inszenierung einmal schlangengleich häutet, eine deutliche Richtung einschlägt, die artifizielle Note abwirft und sie entweder nutzt, und sie entweder nutzt, um das Gestellte dieser irren Welt als verzweifeltes Theater zu entlarven oder gnadenlos ihren Wahn aufzeigt. Loys Synopsis im Programmheft zufolge wäre es eher das zweite; die praktische Umsetzung schafft es aber nicht. Und am Ende? Sind alle wieder im weiß getünchten Esszimmer des Todes. Die Inszenierung igelt sich in den schwierigen Chorszenen lieber in die alte Haut der Schlange ein und flüchtet sich zuletzt ins Offensichtliche.

In der Komposition zeigen sich auch die Widersprüche dieser Oper: die erwähnte psychologische Entwicklungshemmung der Charaktere wird begleitet von einer Orchestrierung, die ihre ständige Wanderschaft und Suche illustriert. So wie sich die Schauplätze der Oper pausenlos ändern, besteht die Musik auch aus auffällig vielen Melodien, teils motivischer Natur, die mehrere Takte lang wiederholt werden, wie Wandersmannlieder, die man ad infinitum beim Gehen vor sich hin singen kann. Für die hat Sir Mark Elder ein Händchen, denn er versteht sie begrüßenswerterweise als eine Art Herzstück der Oper; durchweg schafft er Spannung in diesen Momenten, wie ein schneller Pulsschlag eines Wesens, das ständig auf dem Sprung ist. Ebenfalls unterstützt er die Stimmungen, die auf der Bühne nur halber zum Vorschein kommen: im ersten Akt die eleganten Töne des gehobenen Haushalts, im zweiten Akt die unselige Heiterkeit der Speisenden. Vor der ersten Pause dann berührende Ruhe des Orgelspiels mit einsetzenden Geigen nach der vorangegangenen Dramatik – wohl ganz nach Verdis Sinn ist dieser musikalische Moment eine echte Punktlandung.

La forza del destino/ ROH 2023/ B. Jadge, S. Radvanovsky/ Foto © Camilla Greenwell

Brian Jagde gibt als Don Alvaro den schmelzigen Liebhaber von dem Moment an, da er in der ersten Szene etwas verwegen im Fenster erscheint – etwas verkompliziert durch die Tatsache, dass er ein ungern gesehener „Ausländer“ oder gar „Mischling“ ist; ein Sachverhalt, der ihn unter Druck setzt und gelegentlich zu milde überzogener Dramatik inspiriert. Zum Beispiel das Herumfuchteln mit der Pistole, die wenige Momente später den Marchese di Calatrava erschießen wird. Besonders in der eröffnenden Arie des dritten Aktes, La vita è inferno all’infelice, legt er einen romantischen italienischen Glanz an den Tag, welcher der insgesamt geplagten und idealistischen Figur des Alvaro wohl bekommt.

Don Carlo di Vargas (Étienne Dupuis, seit mehreren Vorstellungen eingesprungen für den indisponierten Igor Golovatenko) singt suspekt geschmeidig, ganz anders als sein dauergrollender Charakter. Man wartet auch bei dieser Klapperschlange von Person, die aktelang darauf wartet, einen tödlichen Biss unter der Haut des gehassten Don Alvaro zu versenken, auf das Ausklappen der Zähne; stattdessen gelingt Dupuis eine glatt süßliche „Buona notte“-Verabschiedung von der kriegstrunkenen Gesellschaft. Gerade nach diesen Tönen wünscht man sich eine Art Häutung, endlich einen Blick in den inneren schwarzfinsteren Abgrund unter der ebenmäßigen Haut, doch das dauert. Breitbeinig sitzt der gealterte Jäger im letzten Akt auf einem Stuhl und piesackt den Anderen mit Racheschwüren und – man sage es geradeheraus – rassistischen Beleidigungen. Endlich beißt hier einer zu.

Sondra Radvanovsky als Leonora di Vargas demonstriert erstklassige Kontrolle über ihre Stimme, null Scheu vor descrescendi bis zuletzt, eine Stimme von weichgeschliffenem Metall, wenn es denn so etwas gibt, ohne scharfe Ecken und Kanten, doch füllig und höchst stabil mit enormer Durchschlagskraft selbst durch den Chor. Die von ihrem Bruder und von bösen Erinnerungen Verfolgte spielt sie mit Sorgfalt, inklusive einer Art epileptischen Krampfanfalls im Kloster. Dennoch – das Schauspiel aller drei wichtigsten Figuren bleibt viel zu häufig zu formelhaft; gerade zwischen Alvaro und Carlo kommt es zu bedauernswert wenigen Unterschieden in ihren respektiven Körpersprachen.

La forza del destino/ ROH 2023/ Vasilisa Berzhanskaya/ Foto © Camilla Greenwell

Die Wahrsagerin Preziosilla (Vasilisa Berzhanskaya) bringt am unteren Ende ihrer Stimme dunkel gefärbte Töne, leichtfüßige Intervalle im oberen Register und flinkes Vibrato. Der gestrenge und chronisch schlechtgelaunte Frau Melitone (Rodion Pogossov) bildet einen deutlichen Kontrast zu seinem eigenen Superior, Evgeny Stavinsky als Padre Guardiano, der einen Bass wie eine Orgel beisteuert: ruhig und unaufgeregt sieht er es schlichtweg nicht nötig, ins Forte zu stürzen, und das nicht mangels Fähigkeit, sondern ruhend in dem Wissen, dass man ihn hört. Curra (Chanaé Curtis) punktet gerade in den höheren Tönen als warm und klar; die weiteren Rollen sind ebenfalls gelungen besetzt. Der Royal Opera Chorus wandelt klanglich zwischen agil und wendig versus langsamer Weichheit in passenden Momenten.

Die hinaustrottenden Operngäste und die Besetzung gehen nach zwei Vorhängen auseinander. „Bisserl melodramatisch, was?“, bemerkt der Sitznachbar über die durchaus konstruiert anmutende Geschichte, ungewöhnlich heiter geworden durch die finale Auflösung. „Großartige Sache, das Gesinge“ tönt ein Kenner an der Wasserstation zwischen gierigen Schlucken. Vier Stunden waren doch für alle erschöpfender, als die weißen Wände vermuten ließen.

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • ROH / Stückeseite
  • Titelfoto: La forza del destino/ ROH 2023/ Foto © Camilla Greenwell 
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