Erinnerungen im Blick 50 Jahre zurück: wenn jemand nach den bekanntesten modernen Komponisten der Zeit fragte, kamen schnell die Namen Strawinsky und Hindemith. Der erste gehört heute noch zu den populärsten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts. Um Paul Hindemith, 1895 geboren, ist es ruhig geworden; sein Œuvre, von reicher Kammermusik bis zu fünf großen Opern, wird nur sporadisch aus der Vergessenheit geholt. Der Rezensionsteil der gut gefüllten Bachtrack-Werkdatenbank nennt nur zehn Opern-Inszenierungen in den letzten Jahren, für die laufende Saison sind gerade zwei Produktionen angekündigt. Wie gut, dass die Spielzeit-Eröffnung am Staatstheater Nürnberg nun Hindemiths Opernmonument Mathis der Maler gewidmet wurde!

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Hans Kittelmann (Hans Schwalb), Samuel Hasselhorn (Mathis), Chloë Morgan (Regina)
© Pedro Malinowski

Zunächst war Hindemith Avantgardist, begeistert gefeierter Umstürzler, der seinen eigenen Ideen von Atonalität nachging. Um 1930 hatte er auch die Phase neuer Sachlichkeit überwunden, wandte sich einer von Bach herrührenden kontrapunktischen Thematik zu. In wieder aufgenommener harmonischer wie melodischer Tonalität schrieb er mit sprödem wie exzessiv loderndem Klang typische, ebenso eisern determinierte Kompositionen.

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Zoltan Nyari (Albrecht von Brandenburg)
© Pedro Malinowski

Mit Prokofjews rarer Oper Krieg und Frieden gelang vor fünf Jahren Joana Mallwitz und Jens-Daniel Herzog als neuem Leitungsteam in Nürnbergs Opernhaus ein spektakuläres Debüt; nun führt Intendant Herzog den neuen GMD Roland Böer ein mit dieser Pretiose Mathis der Maler. Hindemith will in seiner wohl größten Oper das Leben des mystisch genialen Malers Matthias Grünewald beleuchten, dessen um 1500 entstandener Isenheimer Altar, im elsässischen Colmar ausgestellt, mit seinen Bildteilen wie Engelskonzert, Grablegung oder Versuchung des Heiligen Antonius Weltruhm erlangte. Der den Mainzer Kreuzgang ausmalende Künstler kann nicht in seinem Elfenbeinturm verharren, wird in politische Auseinandersetzungen gezogen, in denen er schließlich Partei ergreift.

Herzog sieht die belastende politische Einflussnahme auf die Kunstschaffenden als zeitlos an; ebenso schmerzhaft ist die Entscheidung, welche Position diese, herausgehobene Personen und oft Vorbilder, in Werk und Leben einnehmen sollen. Zur Zeit der Bauernkriege standen Künstler wie Grünewald zwischen Fronten von Katholiken und Protestanten. Diese gingen im umkämpften Mainz so weit, dass die Tochter eines wohlhabenden protestantischen Bürgers dem katholischen Erzbischof zur Hochzeit angeboten wurde, um dessen finanzielle Notlage bei der künstlerischen Ausstattung des Münsters zu lindern.

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Samuel Hasselhorn (Mathis) und Chloë Morgan (Regina)
© Pedro Malinowski

Hindemith selbst wurde von den Nationalsozialisten 1935 als „atonaler Geräuschemacher“ diffamiert, die Aufführung seiner Werke verboten. Sein Rückzug und jahrelanges Exil waren die Folge. Linke Studenten und Künstler der 70er Jahre machten sich wiederum für Arme und Rechtlose stark: Herzog bebildert das Vorspiel der Oper mit eindrucksvollen Videosequenzen (Rebecca Riedel, Coco Bayer) der Studentenproteste ebenso wie von freier oder frei machender Liebe. Darin stellt er Mathis vor als jungen Maler mit Potential, zwischen Feministin und progressiv politisierendem Theologiestudenten. Dass dies die Konzentration auf Hindemiths herbe Polyphonie, gleichermaßen altertümlich wie modern wirkende Harmonie religiöser Stimmung des Engelskonzerts schmälerte, war eine Kehrseite der szenischen Idee.

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Samuel Hasselhorn (Mathis) und Emily Newton (Ursula)
© Pedro Malinowski

Mathis Neidhardts kubisches Bühnenbild sowie Sibylle Gädekes schmucklose Kostüme bilden einen zeitlosen Rahmen der Konflikte. In der Tiefe des Raums kann ein überdimensionales Bücherregal herauffahren, Feuerschein und Rauchschwaden der Bücherverbrennung wehen von der Seite ins Geschehen. Fragen wie „Bist nicht nur eignen Nutzens voll?“ prangen immer wieder an der Rückwand.

Die hemmungslose Brutalität der Bauernkriege macht Herzog, nun durchaus retrospektiv, im mittleren Tableau sichtbar. Aufständische Bauern töten einen gefangen genommenen Grafen brutal durch Ertränken. Seine Frau bleibt nur durch Mathis’ Eingreifen am Leben, wird ihn später in der Szene der gemalten Versuchungen des Antonius retten. Bauernkrieg modern: da bringt Herzog turbulent Klimakleber und Essensretter auf die Bühne, ein perspektivenloser Bauer fragt das Publikum im Parkett nach dessen Luxusausgaben für Urlaubsreisen und Premierenkarten. Dass einige Abonnenten dies als Provokation empfanden, war Teil des Lernprozesses; einzelne Buhs gingen am Ende aber im Jubel für den Schauspieler (kantig emotional Nicolas Frederick Djuren) unter.

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Zoltan Nyari (Albrecht von Brandenburg) und Samuel Hasselhorn (Mathis)
© Pedro Malinowski

Samuel Hasselhorn, faszinierender Bariton der Titelfigur, ist sicher jünger als sein historisches Rollenvorbild; in seiner kompromisslosen Darstellung von Mathis’ Selbstzweifeln und Auseinandersetzungen machte er sich zum dramaturgischen Zentrum der Bilderfolge, fand selbst in schwerem orchestralem Sturm bravourösen klanglichen Reiz, reiche vokale Überzeugungskraft. Sein anfangs leger-weißer Anzug ist bald von Blut- und Farbspritzern besudelt; durch sein schmuckloses Atelier zieht sich eine Blutspur kriegerischer Verletzung.

Roland Böer startete mit sphärisch weichen Posaunen-Choralklängen der Staatsphilharmonie im Vorspiel. Angesichts der Härte der ausgetragenen Konflikte wird auch das orchestrale Bild immer schonungsloser, in der Lautstärke (zu) massiv, wenn auch eindringlich. Für die Sänger keine leichte Aufgabe, dagegen textverständlich zu bestehen. Der Opernchor meisterte in eindringlichen Szenen begeisternd seine vielfältigen Aufgaben.

Das Kollektiv der Kirchenfürsten und Bürger war aus dem Opernensemble imposant besetzt mit Zoltan Nyari, Taras Konoshchenko, Martin Platz, Nicolai Karnolsky und Hans Kittelmann. Emily Newton, Tochter des reichen Lutheraners wie Buhlschaft der Versuchungen, brachte viel Dramatik in ihre facettenreiche Rolle, musste mit starkem Vibrato gegen den Orchestersound forcieren.

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Samuel Hasselhorn (Mathis)
© Pedro Malinowski

Mit markantem Spiel und bewundernswert kontrolliertem Stimmeinsatz blieb Almerija Delic als gerettete Gräfin im Gedächtnis. Regina, Tochter des Bauernanführers und unter Mathis’ besonderem Schutz, erhielt in Chloë Morgans lyrisch empfindsamem Sopran eine anrührende Verkörperung; Ottilie Herzog mimte wundervoll die kindliche Regina.

Selbst im letzten Bild hat Hasselhorn noch verblüffend stimmliche Kraft, Mathis’ Abschied aus dem Mainzer Milieu zu gestalten. Dass sein berühmtes Altarbild letztlich nicht sichtbar wird, liegt an den zeitlichen Sprüngen, die auch ein gegenwärtiges Gemälde nicht zulassen. Ein vergoldeter, riesig leerer Bilderrahmen senkt sich vor den Bühnenprospekt, dazu fein aufgefächerte Orchestermusik. Mathis kommt reflektierend zur Ruhe, lässt das Publikum atemlos zurück. Zauberhafte Momente zum Ende, absolut sehenswert!

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