Serebrennikov inszeniert Lohengrin in Paris als Antikriegsstück

Kein Krieg ist romantisch ….

In Paris inszeniert Kirill Serebrennikov Richard Wagners „Lohengrin“ als beklemmendes Antikriegsstück

Von Roberto Becker

(Paris, September 2023) In Sachen Richard Wagner ist die Pariser Bastille Oper eine sichere Bank. Schon, weil die notorische Wagnerliebe vieler Franzosen im ersten Opernhaus des Landes regelmäßig und auf hohem Niveau bedient werden muss. Im Falle von Kirill Serebrennikovs Pariser Hausdebüt mit des Meisters romantischem Schmuckstück „Lohengrin“ kommt zum aufgebotenen vokalen Luxus und zelebrierten musikalischen Orchesterglanz eine packende szenische Umsetzung hinzu, die ihren Platz in der Rezeptionsgeschichte finden wird. In Wien hatte der Russe, der seit April vorigen Jahres in Berlin im westeuropäischen Exil lebt und seine Arbeiten nicht mehr vom erzwungenen Hausarrest-Homeoffice von Russland aus auf die Bühne lancieren muss, schon seine Gulag-Variante des Parsifalschen Gralsbezirkes noch einmal vor Ort bühnenfit gemacht.

In Paris konnte er das jetzt gleich von Anfang an. Mit einer sehr genauen Personenführung erzählt er die Geschichte vom Verschwinden eines Thronerben, dem Auftauchen des Gralsritters in einer kriegsbereiten Gesellschaft und von deren Scheitern. Er erzählt sie vor allem aus der Sicht von Elsa und im Licht der Folgen, die euphorisch bejubelte Kriegszüge an Wunden und Tod für die kämpfende Truppe und an Trauer und Verlusttraumata für die Zurückgebliebenen mit sich bringen.

Es beginnt schon im bühnenfüllenden Vorspiel-Video mit dem liebevollen Blick Elsas (bzw. einer Kamera) auf ihren gerade eben erwachsen gewordenen Bruder Gottfried. Der durchstreift ausgelassen einen Wald. Eine Hand berührt dabei immer wieder zärtlich sein strahlendes Jungengesicht. Wenn er zum Baden in den See springt, werden große Schwanenflügel-Tattoos auf seinem Rücken sichtbar. Dass er in den Krieg und damit geradewegs in den Tod ziehen muss, sieht man ihm an, wenn er sich nach dem Bad wieder anzieht.

Elsa bringt das schier um den Verstand. Wenn sie dann auch noch angeklagt wird, für sein Verschwinden verantwortlich zu sein, tritt sie in wahrsten Wortsinn nackt und bloß vor den König und sein Gericht. Zwei Bühnendoubles verdeutlichen Elsas Persönlichkeitsspaltung. Offensichtlich hat sie sich aus dieser Welt in eine eigene Wirklichkeit geflüchtet. Es ist eine, die allerdings von ihrer Umgebung als Wahnsinn wahrgenommen wird. Sie wird entsprechend „behandelt“, wobei sich Ortrud und Telramund ohne weiteres als Ärzte ausgeben können, um sie zu manipulieren und ihre Ziele zu verfolgen.

Serebrennikov zieht hier alle Register einer surrealen Opulenz – von zwei Männern mit je einem Schwanenflügel als Begleiter Lohengrins, Traumgestalten mit Kugelköpfen und grafischen Videoergänzungen der kargen Räume. Der von Elsa imaginierte Lohengrin selbst kommt dann zwar ganz real als Soldat in Tarnfleckuniform, ähnelt in seinem Habitus Elsas Bruder auffallend. Da macht es dann auch Sinn, wenn die Worte Lohengrins von Elsa mit- oder vorgesprochen werden.

Im zweiten Aufzug wird diese individuelle Ebene eines traumatischen Frauenschicksals, von den erschütternden Folgen eines Kriegsalltags, der alle erfasst, überblendet. Die Bühne wechselt hier, eingeleitet von den königlichen Fanfaren, in eine enthüllende Gleichzeitigkeit von drei Ebenen des Krieges. Links erwarten aufbruchbereite Soldaten in Kampfuniformen ihre Frauen zum Abschied. Die Propagandasprüche des Königs und seines Heerrufers (beide kommen daher wie Akteure des heutigen Politikbetriebes) haben verfangen. Die wenigen Stimmen der Vernunft, die nach dem Zweck des Ganzen fragen, werden ungehört niedergebrüllt. Das zentrale Segment der Bühne ist ein Lazarett mit Verwundeten, Verstümmelten und Sterbenden, die von ihren besorgten Frauen besucht werden und bei denen sich auch der König blicken lässt, um medienwirksam Orden zu verteilen oder den Heldenmüttern zu kondolieren.

Gleich daneben stapeln sich die Leichensäcke, weil die Kühlfächer längst überfüllt sind. Elsa erlebt ihre so eingerahmte Hochzeit im Grunde vom Krankenlager aus.
Auch die Atmosphäre des dritten Aufzuges weitet die eher individuelle Perspektive der Hochzeitsnacht eines gerade vermählten Paares auf all die anderen. Vor einer Tapete mit Schwanenmotiven lassen sich viele Hochzeitspaare fotografieren, die kurz vor dem bevorstehenden Sterben an der Front noch schnell heiraten. Bei seiner Gralserzählung steht Lohengrin auf einem Trümmerstück und wenn Elsa auch hier gelegentlich den Text zu singen scheint, der aus Lohengrins Kehle kommt, kündet das von der Scheinwelt, in die sich die Sterbende geflüchtet hat. Am Ende kehrt denn auch nicht ihr Bruder (aus dem Vorspiel-Video) wieder, sondern ein mit Wunden übersäter junger Mann entsteigt einem Leichensack. Lohengrin stellt ihn, hier vielleicht sogar passend in Abweichung vom Original, als „Schützer“, nämlich als leibhaftige Mahnung von bzw. für Brabant vor.

Lohengrin wird ja häufig als ein Stück aus Kriegszeiten auf die Bühne gebracht. So eindringlich heutig und so allgemeingültig und mit so viel Empathie für die Opfer und obendrein so konsequent aus der Perspektive Elsas wie bei Kirill Serebrennikov, hat man das noch nie gesehen.

Für die beklemmende Wirkung sorgten freilich auch das Orchester der Oper und die erstklassige Sängercrew.

Hier gibt es für ein Haus wie Paris naturgemäß keine Grenzen. So erfüllen Piotr Beczala und Johanni van Ostrum alle Wünsche an das Traumpaar Lohengrin und Elsa. Auch die übrigen Besetzung ist von handverlesener Referenzqualität. Nina Stemme ist eine imponierend kraftvolle, wohlartikulierende Ortrud, Wolfgang Koch der klug akzentuierender Telramund an ihrer Seite. Der Einspringer Tareq Nazmi macht aus dem König einen aalglatten Politiker von heute mit Shenyang als loyalem Regierungssprecher an seiner Seite.

Alexander Soddy sorgt am Pult des Orchester de l’Opera de Paris in Wagner-Hochform für Transparenz ebenso wie für den großen, nie überzogenen raumfüllenden Effekt. Der Jubel für die Protagonisten war in Paris ungeteilt. Die Zustimmung für das Regieteam – wagnerüblich – mit ein paar wenigen, kräftigen Buhs gewürzt.

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