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Kritik – "Mathis der Maler" in Nürnberg Farbe bekennen im Glaubenskrieg

Paul Hindemith verarbeitete mit seiner Bekenntnis-Oper die Erfahrungen im Nationalsozialismus: Wie soll der Künstler auf die Zumutungen von Fanatikern reagieren? Jens-Daniel Herzog holt das Thema konsequent in die Gegenwart – auch mit Klimaklebern. Das gefiel nicht allen.

Szene aus "Mathis der Maler" am Staatstheater Nürnberg, 1. Oktober 2023 | Bildquelle: Pedro Malinowski

Bildquelle: Pedro Malinowski

Sauber bleiben im Glaubenskrieg, das dürfte schwer sein, denn wenn Fanatiker erst mal anfangen, sich den Weg mit der Maschinenpistole freizuschießen, macht sich wohl jeder schmutzig, im wirklichen wie im übertragenen Sinne. Die einen werden zu Tätern, andere zu Opfern, die meisten aber zu Mitläufern, Duckmäusern, Opportunisten, Speichelleckern, Hofschranzen. Und so steht der umschwärmte Maler Mathis mit seinem weißen Leinenanzug im Getümmel der Eiferer und sieht sich schnell von oben bis unten besudelt: Gern hätte er sich durchgemogelt durch diesen Krieg, aber die Umstände, die sind nicht so. Davon wusste der Komponist Paul Hindemith ein Lied zu singen, die Nazis verboten seine Musik, er sah sich zur Emigration gezwungen.

Dieses Schicksal spiegelte er im Maler Matthias Grünewald, dem es zur Zeit der Reformation und des Bauernkriegs nicht viel besser erging: Auch er sieht sich in dieser Oper vor eine Gewissensentscheidung gestellt: Anpassen, Mitlaufen, Widerstand leisten? Die Mächtigen bieten ihm Geld und Karriere, die Rebellen verlangen Solidarität, Aufopferung. Dass der Nürnberger Intendant und Regisseur Jens-Daniel Herzog in seiner Inszenierung Klimakleber auftreten lässt, mag der eine oder andere arg aufgesetzt empfinden, aber auch hier geht es ja um einen Aktivismus, der kategorisch eine Stellungnahme einfordert: Farbe bekennen, das ist hier wörtlich zu verstehen, denn auf der Bühne, die Mathis Neithardt entworfen hat, wird herumgepantscht wie beim amerikanischen Action Painting.

Höllenritt durch die irre gewordene Welt der Fundamentalisten

Szene aus "Mathis der Maler" am Staatstheater Nürnberg, 1. Oktober 2023 | Bildquelle: Pedro Malinowski Bildquelle: Pedro Malinowski Am Ende stehen fast alle verdreckt da: Beim Höllenritt durch die irre gewordene Welt der Fundamentalisten fällt es schwer, sich selbst treu zu bleiben. Jens-Daniel Herzog: "Der Künstler lebt davon, an sich und der Welt zu zweifeln, an jeder Ideologie zu zweifeln, ob sie nun rückwärts- oder vorwärts gewandt ist. Aber, weil er sich auf dem schwankenden Boden des Zweifels und Selbstzweifels befindet, ist er anfällig für einfache Antworten, für Ideologie. Wir haben es in den siebziger Jahren erlebt, wo sich ganze Kunstrichtungen einer einfachen moralischen Botschaft verschrieben und damit die Kunst verlassen haben, die sich nach wie vor in dieses Spannungsfeld begeben muss. Sie muss autonom bleiben und sich trotzdem auf die Welt einlassen, und das, glaube ich, versucht Paul Hindemith uns hier vorzuführen."

Fesselnd bis zur letzten Minute

Dieser Kampf des Künstlers mit den Verhältnissen fesselt von der ersten bis zur letzten Minute, weil ihn Jens-Daniel Herzog in die Gegenwart holt. Alle Entscheidungsträger lebten früher mal in einer Kommune, wie ein Film zur Ouvertüre nahelegt. Sie wollten die Welt aus den Angeln heben und haben sich dann doch mit ihr arrangiert, bis auf den Berufsrevolutionär, der nicht verstehen kann, dass irgendjemand in diesen Verhältnissen einfach nur seinen Job erledigt, sei er Maler oder Kardinal. Weitermachen ist für ihn undenkbar, umstürzen eine Notwendigkeit, wie eben auch für die "Letzte Generation". Und wie entscheidet sich Mathis? Er sucht sein Heil in der Ewigkeit, in Visionen, in der Kunst. Ob dieser Notausgang überzeugt, muss jeder selbst entscheiden.

Aufwändig bebilderte Glaubenskampf-Revue

Szene aus "Mathis der Maler" am Staatstheater Nürnberg, 1. Oktober 2023 | Bildquelle: Pedro Malinowski Bildquelle: Pedro Malinowski Am Ende gab es ein paar Proteste, vor allem, weil ein aufständischer Bauer in einer Sprechrolle die Premierengäste recht aggressiv nach den Kosten für ihre Eintrittskarten fragte und wissen wollte, wie viele der Anwesenden Vermieter seien, während er selbst nicht wisse, wie er über die Runden kommen solle. Nah am Agitprop-Theater, aber es fügte sich in diese enorm aufwändig bebilderte Glaubenskampf-Revue, die kaum jemanden kalt gelassen haben dürfte. Und dass, wo die Musik von Paul Hindemith eigentlich eher spröde ist. Umso erstaunlicher, wie Dirigent Roland Böer die Flammen lodern ließ, mit ganz heißem Atem zu Werke ging. Das war nicht die unterkühlte Neue Sachlichkeit, zu der Hindemith gewöhnlich gerechnet wird, sondern wilder Expressionismus.

Kontroverser Saisonauftakt

Die Solisten zeigten sich anfangs etwas verunsichert, so unablässig, wie sie Blickkontakt zum Dirigenten hielten, spielten sich später aber frei. Beeindruckend, wie engagiert sie dabei waren: Aufrüttelnde Gewaltszenen wechselten sich mit albtraumhaften Visionen ab, bei denen die Sänger in den Bühnenhimmel flogen. Samuel Hasselhorn in der Titelrolle überzeugte ebenso wie Zoltan Nyari als aalglatter Kardinal Albrecht von Brandenburg und Hans Kittelmann als idealistischer Anarcho. Emily Newtons Rollenporträt als Patriziertochter Ursula, die von allen Seiten instrumentalisiert wird, war ebenso berührend wie Almerija Delics Charakterstudie einer Gräfin, die durch Gewalterfahrungen zur Zynikerin wird. Insgesamt ein umstrittener, aber überwiegend bejubelter Spielzeitauftakt am Staatstheater Nürnberg.

Sendung: "Allegro" am 2. Oktober ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (3)

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Montag, 09.Oktober, 20:07 Uhr

euphrosine

inhalte vn opernkritiken

Vor gut/ca. 20 Jahren las ich zu meinem damaligen maßlosen Erstaunen (quasi noch Opernneuling, ebenso hingerissenwie begierig zu lernen) von eben jenem Autor eine Kritik, die absolut OHNE IRGENDEINEN Bezug zur Musik war (sei es Komposition, Sänger, Orchester, Dirigat; ws auch immer).
Da ist doch entschieden einiges geschehen in den letzten Jahrzehnten! Immerhin gibt es mittlerweile schon Gewichtungen :):)

Montag, 02.Oktober, 09:39 Uhr

Manfred Zimmer

Qualität der Kritik

Was soll so eine Kritik? Es geht um eine Oper? Wo bleibt die musikalische Seite?
Die beide Adjektive "überzeugte" und "berührend", die da pauschal zu den Sängerleistungen stehen, dürften dem Anspruch einer seriösen Opernkritik wohl nicht gerecht werden. Auch zur zerstückelten, entstellten und entstellenden Fassung der Partitur vermisse ich eine kritische Auseinandersetzung. Eine erbärmliche Musikkritik.

Montag, 02.Oktober, 02:07 Uhr

Thomas Baack

Unmotivierte Striche

Habe versucht im Klavierauszug mitzulesen und war erstaunt, was für die Aufführung alles innerhalb der ersten drei Bilder an Taktgruppen gestrichen wurde. Da - anders als bei „Cardillac“ - keine Zweitfasuung existiert, empfinde ich das Vorgehen als arg übergriffig.
Ob Mathis derart lyrisch besetzt gehört, oder nicht eher mit einer Sachs-Stimme ist Geschmacksache. Vielleicht wäre hier der Sänger des Pommersfelden - vorausgesetzt die hohen fisse liegen nicht außerhalb der Reichweite - idiomatischer gewesen. Den Albrecht als Charaktertenor zu besetzen ist definitiv eine Fehlentscheidung.
Von der Koordination her erschien mir das Ganze etwas unterprobt.
Was mich an der Kritik stört, ist der Vorrang des Optischen vor dem Musikalischen. Ist schließlich keine Sportreportage.

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