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Die Bühne ist in dunkles blau getaucht. Ein Großteil des Bildes fällt auf die Projektion einer Meeresoberfläche - wohlgemerkt von unten. Im Hintergrund stehen mit großem Abstand Opern und Extra Chor. Vorne liegt Peter Grimes, seine heimliche Liebe und sein letzter Lehrjunge stehen starr vor dem leblosen Körper.

Die Nicht-Familie von „Peter Grimes“ | Chor, Extrachor, Claire Rutter, Brett Sprague, Marlon Löffler, Juri Batukov, Katja Bildt, Máté Sólyom-Nagy. Foto: Lutz Edelhoff

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Ein Alptraum-Leben: Die „Uferlos“-Spielzeit der Oper Erfurt startet mit Brittens „Peter Grimes“

Vorspann / Teaser

Die Oper in Erfurt überschreibt ihre Spielzeiten immer mit einem zumeist treffsicheren Motto. Das aktuelle „uferlos“ deutet auf metaphorische Wassermassen, was für den Auftakt mit Benjamin Brittens, 1945 uraufgeführter Oper „Peter Grimes“ ja schon mal passt. In eingeblendeten Videos wogt es gewaltig und vor der windschiefen Hütte Peters stehen zwei Tonnen, aus denen er bei einem seiner Wutausbrüche etwas Wasser herauspeitscht.  

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Der Peter Grimes, den Britten und sein Librettist Montagu Slate als Titelhelden ins Zentrum der Oper gestellt haben, ist ein Fischer, der nicht nur mit dem Meer um seinen Lebensunterhalt und die Möglichkeit eines Aufstiegs kämpft, sondern der auch mit sich selbst und seiner Unbeherrschtheit und mit fast allen seiner Mitmenschen ringt. Und er ist einer, der auf ganzer Linie verliert. Ein verunglückter Lehrjunge zum Einstieg der Handlung, ein vermisster am Ende, vor allem aber die offenkundige Brutalität, mit der er sie behandelt, machen ihn den Bewohnern des Fischerdorfs verdächtig. Als sie ihm in seiner Hütte auf die Pelle rücken, wissen sie nicht mal, was sie eigentlich erwartet haben und sind verblüfft über die harmlos ordentliche Behausung. Eine Beziehung mit der Lehrerin Ellen Orford bleibt für Peter eine ungelebte Utopie. 

Bei Marin Blažević (Regie), Wolfgang von Zoubek (Bühne und Lichtdesign) und Sandra Dekanić (Kostüme) scheint diese Utopie erst am Ende auf. Da ist Peter, ganz vorn an der Rampe wie ein Ertrinkender langsam zu Boden gegangen und Ellen und sein letzter Lehrjunge legen sich zu ihm. Es ist das Bild einer Kleinfamilie, die nie zustande kam und nun nur noch im Tod vereint möglich ist. Näher an ein wirkliches oder mögliches Leben wie an diesem Ende kommen sie freilich nie.

Ziellos aber ausgrenzend

In Erfurt treffen wir auf keine Dorfgemeinschaft mit Menschen aus Fleisch und Blut, mit Professionen und Obsessionen. Hier kommen sie alle im Grunde unwirklich, wie Zombies daher, lassen Peters Leben zu einem einzigen Alptraum werden, treiben ihn in den Selbstmord und lassen das wie eine Erlösung aussehen. Einen irgendwie „Anderen“, um sich selbst zu definieren, brauchen offenbar auch diese Zombies. Von einem gesellschaftlichen Mikrokosmos bleibt so allenfalls ein diffuses surreales Raunen übrig. 

Die phantasievoll artifizielle Opulenz der Kostüme mit ihren Fischernetzversatzstücken etwa hat durchaus ihren ästhetischen Reiz, macht aber kaum die Individualität ihrer Träger kenntlich. Was analog auch für den abstrakten Raum gilt, den kahle Mauern mit unsichtbaren Türen für die Auf- und Abtritte begrenzen. Hinten kann der sich für Projektion von imponierenden Meereswogen öffnen und in der Höhe evoziert er eine Ahnung von Unendlichkeit. 

Das ist alles gekonnt und atmosphärisch ausgeleuchtet (Licht: Torsten Bante). Die Bewegungen der einzelnen oder der Massen folgen meist dem Wogen des von Clemens Fieguth exzellent und feinfühlig geleiteten Philharmonischen Orchesters, nähren sich aber oft auch einer geradezu oratorischen Erstarrung eines Tableau vivant. Der musikalischen Qualität des Abends schadet diese Dominanz einer autonomen Bildsprache aber nicht. Es ist geradezu verblüffend, zu welch kammermusikalischer Raffinesse und symphonischer Sinnlichkeit das Erfurter Orchester bei Britten fähig ist. 

Fein gemacht

In dem betonten Ästhetizismus dieser Inszenierung und ihrer subtilen musikalischen Umsetzung erahnt man einiges von Brittens inniger in diese Musik eingewobenen Beziehung zum Meer. Für die heute mögliche Spurensuche danach, ob unbewusst auch Brittens eigene Gefährdungen mitschwingen könnten, die zu seiner Lebenserfahrung als offiziell nie geouteter Homosexueller gehörte, bleibt in dieser hermetischen Ästhetik wenig Raum. Außer vielleicht andeutungsweise in den wenigen Augenblicken des Zögerns bei Peters Gewaltausbrüchen gegen den Jungen in der Hütte. 

Zu den musikalischen Meriten des Abends gehört neben Orchester und Chor ein exquisites Protagonistenensemble. Allen voran Brett Sprague, der als Peter Grimes mit seiner Zerrissenheit und vor allem seiner imponierend sicher fokussierten wohltimbrierten Tenor, das vokale Zentrum bildet. Claire Rutter als die um ihn kämpfende Ellen Orford und Siyabulela Ntlale als Balstrode beeindrucken in ihrer Parteinahme für Peter. Bei den Frauen rangen vor allem Katja Bildt als Auntie, Candela Gotelli und Daniela Gerstenmeyer als die beiden Nichten, sowie Valeria Mudra mit ihrer Überzeichnung der Mrs. Sedley als einer Art Dorfhexe heraus.

Da auch in Leipzig ein Peter Grimes im Repertoire ist, war es wohl nicht allzu schwer, von dort Dan Karlström als Einspringer für die Rolle des Bob Boles und in letzter Minute (daher nur vom Rand singend) Randall Jajobsh als Swallow (szenisch übernahm Regieassistent Stephan Witzlinger) nach Erfurt zu engagieren. Spielplanparallelen haben halt auch ihre Vorteile, wenn es mal eng wird. Auch die kleinen Rollen wie der Pastor und Ned Keene sind mit Tristan Blanchet und Máté Sólyom-Nagy erstklassig besetzt (was wiederum die Rendite eines solide aufgebauten Hausensembles ist. Auch der von Markus Baisch um einen Extra Chor verstärkte Opernchor des Hauses war für seine Hauptrolle bestens präpariert und nahm diese Rolle auch wahr. Alles in Allem ist Erfurt musikalisch überzeugend mit einer ästhetisch sehr eigenen Inszenierung in die neue Spielzeit gestartet. Vom Premierenpublikum im nicht ganz ausverkauften Haus wurde sie ausgiebig gefeiert.

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