„Lohengrin“ in Paris :
Lieben kann der Held, retten aber nicht

Von Marc Zitzmann
Lesezeit: 4 Min.
Soldat als Hoffnungsträger: Piotr Beczala als Lohengrin wird von Johanni van Ostrum als Elsa bewundert.
In Selenskyjs Heilanstalt für Opfer des Krieges: Kirill Serebrennikow inszeniert Richard Wagners „Lohengrin“ an der Pariser Nationaloper als Geschichte für die Psychiatrie.

„Strafkolonie Montsalvat“ war vor zwei Jahren an dieser Stelle die Rezension von Kirill Serebrennikows Inszenierung von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ an der Wiener Staatsoper überschrieben. Jetzt hat sich der russische Regisseur, nach fünf Jahren der politisch motivierten Verfolgung in seiner Heimat 2022 nach Berlin emigriert, an der Pariser Nationaloper Wagners letzter romantischer Oper angenommen, „Lohengrin“.

Die beiden Werke sind stofflich verbunden: Der Schwanenritter ist in der mittelalterlichen Artus-Sage der Sohn des Gralshüters Parzival. Und auch die beiden Inszenierungen sind miteinander verwandt: Spielte Erstere in einer Putinschen Haftanstalt, so ist Letztere in einem Selenskyjschen Krankenhaus angesiedelt, halb Nervenheilanstalt, halb Frontlazarett. „Von der Strafkolonie Montsalvat zum Spital Cherson“, könnte man Serebrennikows Blick auf den Gralsstoff so zusammenfassen.

Dass Elsa, die weibliche Heldin des Werks, nicht bloß eine hysterische Jungfrau sei, die von ihrem Ritter und Retter träumt, sondern schlechterdings ein Fall für die Psychiatrie, wurde schon öfter suggeriert. Wagner selbst lässt die Schwärmerin in seiner Dichtung eine „Törin“ heißen und als „sonderbar“, „seltsam“, ja „entrückt“ beschreiben. Serebrennikow geht nun einen Schritt weiter, indem er die Ursache von Elsas Umnachtung benennt: Ihr Bruder ist im Krieg verschollen.

Der mittelalterlich-romantische Plot lässt sich so mit dem Tagesgeschehen in der Ukraine erden. Skepsis weckt indes bereits, dass Serebrennikows Dramaturg im Programmheft eine etymologische Verbindung zwischen den deutschen Wörtern „Traum“ und „Trauma“ zu forcieren sucht – wo zwei Google-Klicks erweisen, dass ihre Herkunft völlig divergiert. Und so verfahren die beiden mit dem ganzen Werk: Es wird ins Prokrustesbett eines vorgefassten Konzepts gezwängt.

Vorliebe für Epheben: Johanni van Ostrum als Elsa träumt von ihrem im Krieg verschollenen Bruder.
Vorliebe für Epheben: Johanni van Ostrum als Elsa träumt von ihrem im Krieg verschollenen Bruder.Charles Duprat

Die Bösewichter Telramund und Ortrud mutieren so zu Psychiatern, König Heinrich mitsamt Heerrufer und Hofstaat sowie der Titelheld höchstselbst sind, wie’s scheint, Gespinste von Elsas krankem Hirn – welches auch ein mimendes Double, ja ein tanzendes Triple auf die Bühne halluziniert und weite vertikale Flächen daselbst mit Video-Visionen zupflastert. Bezwingendes folgt in dieser Inszenierung auf unfreiwillig Komisches, Gestik aus der Mottenkiste des Opernfundus wechselt mit clipartiger Ästhetisierung des Soldatentums ab (wie – unter anderen Berufskollegen – Barrie Kosky und Olivier Py lebt Serebrennikow seine Faszination für textilfreie Epheben gern zulasten des jeweiligen Werkes aus). Unter dem Strich eine Kopfgeburt, zudem mit grobem Pinsel gemalt.

Problematisch auch die beiden ungleichen Solistenpaare. Piotr Beczala trifft in der Titelrolle schlicht nicht den adäquaten Ton. Veristische Akzente in der spannungsfördernd verschattet begonnenen Gralserzählung wirken stilfremd, doch auch an anderer Stelle steht Interpretatorisch-Gedankenloses („Das süße Lied“ ohne jede Innigkeit) immer wieder neben Handwerklich-Exquisitem. So lässt der polnische Tenor am Ende des zweiten Aufzugs auf einen deplatzierten Schluchzer in der Phrase „In deiner Hand, in deiner Treu‘ liegt alles Glückes Pfand!“ ein schwerelos leises hohes A in dem Ausruf „Heil dir, Elsa!“ folgen. Grundsätzlich gelingt es Beczala sehr wohl, den Liebenden zu beglaubigen – nicht jedoch den Gottgesandten, die blau-silbern schimmernde Lichtfigur, den reinen Retter und keuschen Schützer, der weder Herzog noch Führer sein will. Was keine Frage der Nationalität ist: Neben den Deutschen Franz Völker (dem idealen Lohengrin), Max Lorenz und Marcel Wittrisch trafen unter anderen auch der Ungar Sandor Konya, der Franzose Georges Thill, der Schwede Jussi Björling und die Italiener Fernando de Lucia und Aureliano Pertile einst den ureigenen Lohengrin-Ton mit seiner Mischung aus Hehrheit, Leuchtkraft, Poesie und weichem Glanz.

Bei Johanni van Oostrums Elsa wiederum irritiert eine (premierenbedingte?) Nervosität, die sich durch mangelnde innere Ruhe manifestiert, durch Überhastung beim Phrasieren. Wo die illuminierte Jungfrau, die im Vertrauen auf ihren Traum-Recken ohne mit der Wimper zu zucken König, Grafen und Edlen die Stirn bietet, doch erst nach zweieinhalb Stunden ins Wanken kommen sollte – als nämlich das Gift des Zweifels, das Ortrud und Telramund ihr bezüglich Lohengrins Herkunft ins Ohr geträufelt haben, sein zersetzendes Werk beginnt. Der brabantische Graf (Wolfgang Koch) und seine Hexe von Gattin (Nina Stemme) überzeugen gleichfalls nur bedingt: Ersterem mangelt es an Furor, namentlich im Streitgespräch des zweiten Aufzugs, Letzterer nicht an Strahlkraft, wohl aber an Rundheit in der Höhe.

Im Gegensatz zu den drei Letztgenannten besticht Tareq Nazmi, kurzfristig als König Heinrich eingesprungen, mit messerscharfer Diktion. Zusammen mit Shenyang als markigem Heerrufer und dem durch Ching-Lien Wu blendend vorbereiteten Chor der Nationaloper bietet er die eindrücklichste stimmliche Leistung des Abends. Das Opernorchester seinerseits spielt unter der kapellmeisterlich-energischen Stabführung von Alexander Soddy auf hohem Niveau. Dennoch gedenkt man mit Wehmut der noch nicht lang verflossenen Zeiten, als Philippe Jordan musikalischer Leiter der Nationaloper war. Der Schweizer hatte – in zwei „Ring“-Produktionen, aber 2017 auch in „Lohengrin“ – einen faszinierend „französischen“ Wagner-Klang erarbeitet: Kernig, federnd, transparent und duftig. Hinter diesen Leistungsstand scheint das Orchester gegenwärtig wieder zurückzufallen. Um besagtes Niveau zu erreichen (und zu halten), braucht es einen Musikdirektor, der über ganz präzise Vorstellungen in puncto Spielkultur verfügt – und bereit ist, um deren Verwirklichung willen hart zu arbeiten und sich langfristig zu binden. Gustavo Dudamel, der kam, sah und kündigte, war als Jordans Nachfolger klar nicht der Richtige.