Magda träumt einer verpassten Gelegenheit nach: Als sie siebzehn war, verliebte sie sich in einem Pariser Nachtlokal in einen Studenten, brachte aber nicht den Mut auf, aus dieser Gunst der Stunde etwas Dauerhaftes werden zu lassen. Das ist die Vorgeschichte. Etliche Jahre später ist sie, das ehemalige Waisenkind, die Kurtisane des reichen Bankiers Rambaldo geworden, der ihr ein luxuriöses Leben bietet und dafür ihre körperlichen Dienste in Anspruch nimmt. Bei einem Empfang in Rambaldos Salon singt der Dichter Prunier eine Romanze von einer standhaften Frau, die sich nicht vom Reichtum verführen lässt. Kurz darauf tritt der junge Ruggero, der Sohn eines Geschäftsfreundes von Rambaldo, auf. Das Landei aus der südfranzösischen Provinz soll die erste Pariser Nacht in einem Vergnügungslokal verbringen. Dabei fällt die Wahl ausgerechnet auf den Nachtclub Bullier, wo Magda seinerzeit ihren Studenten getroffen hat. Erneut erwachen da Magdas verdrängte Erinnerungen, und sie hofft, mit Ruggero nochmals die Liebesgefühle von damals zu erleben.

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Benjamin Bernheim (Ruggero)
© Monika Rittershaus

Dies ist die Ausgangslage in Giacomo Puccinis Komödie La rondine, die das Opernhaus Zürich als Schweizerische Erstaufführung produziert hat. Entstanden zwischen La fanciulla del West und Turandot, ist La rondine das Aschenbrödel unter Puccinis Opern. Ursprünglich sollte der Komponist, im Auftrag des Wiener Carltheaters, gar eine Operette schreiben. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs und wegen Puccinis prinzipieller Abneigung gegen dieses Genre kam es aber nicht dazu. Später lies er den Text der beiden Wiener Librettisten von Giuseppe Adami umformen und ins Italienische übersetzen und schuf auf dieser Basis eine dreiaktige Commedia lirica. Es handelt sich um eine Oper mit immer noch deutlichem Operetteneinschlag, eine Tragikomödie mit melancholischen und heiteren Elementen.

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Ermonela Jaho (Magda) und Benjamin Bernheim (Ruggero)
© Monika Rittershaus

Lohnt sich die schweizerische Wiederentdeckung von La rondine 106 Jahre nach ihrer Uraufführung in Monte-Carlo? Einer der felsenfest daran glaubt, ist der Regisseur Christof Loy, der das Werk für Zürich vorgeschlagen hat. Seine Inszenierung zeigt die Unmöglichkeit, der Realität des Lebens zu entrinnen. Der Traum von einem anderen Leben kann nicht eingelöst werden. Den Ausbruchsversuch unternimmt Magda im zweiten Akt, der im Nachtclub Bullier spielt. Nachdem sie sich Hals über Kopf in Ruggiero verliebt hat, will sie nicht mehr in das goldene Gefängnis ihres Mätressendaseins zurückkehren und kündigt Rambaldo ihre Gefolgschaft. Der dritte Akt spielt an der Côte d’Azur, wo das Liebespaar in einem Landhaus Unterschlupf gefunden hat. Als Ruggero von einer kleinbürgerlichen Zukunft mit Häuschen und Kind träumt, gibt Magda ihre bisher geheim gehaltene Identität preis: „Ich habe mich für Geld verkauft.” Daraufhin kehrt sie wieder zu Rambaldo nach Paris zurück.

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Sandra Hamaoui (Lisette) und Juan Francisco Gatell (Prunier)
© Monika Rittershaus

Dass sich im Grunde nichts ändert, zeigt auch die Bühne von Étienne Pluss. Das Grundgerüst eines grossbürgerlichen Salons vom ersten Akt bleibt auch im Nachtclub und im Liebesnest des dritten bestehen. Der Balkon des Refugiums an der Côte d’Azur verwandelt sich am Schluss wieder in das Hinterzimmer von Rambaldos Salon. Unter dem Aspekt der Abwechslung ist diese Uniformität, so schlüssig sie ist, doch zu bedauern. Gerade dem zweiten Akt stünde etwas mehr Moulin-Rouge-Atmosphäre gut an. Und auch bei den von Barbara Drosihn entworfenen Kostümen könnte man sich noch mehr Frivolität vorstellen.

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Ermonela Jaho (Magda) und Vladimir Stoyanov (Rambaldo)
© Monika Rittershaus

Eine Renaissance von La rondine funktioniert auf jeden Fall nur mit einem exzellenten Hauptdarstellerpaar, und dieses ist für Zürich zweifellos gefunden worden. Die Sopranistin Ermonela Jaho, weltweit gefragt als Violetta und Cio-Cio-San realisiert die Titelrolle der „Schwalbe” Magda mit vollem stimmlichem und körperlichem Einsatz. Sensationell sind etwa ihre Spitzentöne im Pianissimo, grossartig ihr Spiel mit dem Verstecken oder Offenlegen ihrer Gefühle. Der Tenor Benjamin Bernheim als Ruggero ist ihr sängerisch ein kongenialer Partner. Gestalterisch dürfte er im Nachtclub seine Naivität noch mehr herausstreichen. Im dritten Akt gibt er den zuerst verliebten und dann desillusionierten jungen Mann mit grosser Überzeugungskraft. Den Kontrast zum tragischen Paar bildet, durchaus gattungstypisch, das komische Paar des Dichters Prunier und der Zofe Lisette. Sandra Hamaoui gibt Magdas Dienerin als geborene Komödiantin, während Juan Francisco Gatell als exaltierter Dichter noch etwas dicker auftragen dürfte. Für heitere Momente sorgen auch Magdas drei Freundinnen Yvette (Yuliia Zasimova), Bianca (Meeta Raval) und Suzy (Siena Licht Miller), die an die drei Damen Alice Ford, Mrs. Quickly und Meg Page aus Verdis Falstaff erinnern. Nichts zu lachen gibt es bei den Auftritten von Rambaldo, den Vladimir Stoyanov als machtbewussten Macho darstellt.

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Ermonela Jaho (Magda) und Benjamin Bernheim (Ruggero)
© Monika Rittershaus

Ein Glücksfall für die Zürcher Produktion ist das Engagement des italienischen Dirigenten Marco Armiliato, eines leidenschaftlichen Verdi- und Puccini-Spezialisten. Unglaublich, dass er La rondine vom ersten bis zum letzten Takt auswendig dirigiert. So gilt denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit der Philharmonia Zürich im Graben sowie den Protagonisten und dem hervorragend singenden Chor der Oper Zürich (Einstudierung: Ernst Raffelsberger) auf der Bühne. Armiliato versteht das Orchester als gleichberechtigten, manchmal sogar den Sängern übergeordneten Partner und holt aus dem Klangkörper viel Assoziatives, Demonstratives und farblich Akzentuierte heraus. Unnötig zu sagen, dass dies alles in eine betörende Italianità des Ausdrucks eingebettet ist. 

Bleibt zuletzt die Frage, ob sich die Neubelebung von La rondine auch von der musikalischen Substanz her lohnt. Die Oper ist ein typisches Produkt von Puccinis Spätstil, der die festgefügten Formen wie Arien oder Duette aufbricht und in einen ständig sich wandelnden Fluss überführt. Spezifisch kommt noch die Spannung zwischen zitierter Walzerseligkeit und bisweilen recht modern anmutender Klanggestalt hinzu. Die Frage darf also mit einem deutlichen Ja beantwortet werden.

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