Von der Ruchlosigkeit des britischen Landadels – „Das Rheingold“ am Royal Opera House

Christopher Maltman (Wotan) Sean Panikkar (Loge)/ Das Rheingold /© 2023 ROH/ Photo by Monika Rittershaus

Wenn der australische Meister des Regietheaters, Barrie Kosky, einen neuen Ring inszeniert, kann es durchaus zu technischen Pannen kommen. Diese jedoch keinesfalls auf der Bühne, sondern während des Kartenvorverkaufs für die neue Rheingold-Inszenierung am Royal Opera House. Die vielen EDV-Fehler können da vielleicht als Indikator des hohen Publikumsinteresses am neuen Londoner Ring gedeutet werden. Und das zurecht: Die Royal Opera, sonst ein Beispiel britischer Gediegenheit, tischt gewagte Bilder (Bühnenbild: Rufus Didwiszus/Kostüme: Victoria Behr)  und gute Besetzungen auf. (Rezension der Vorstellung v. 14. September 2023)

 

Die Darbietungen beginnen bereits vor der Musik: die alte, nackte Erda schleicht zu Totenstille im Saal über die Bühne und schlägt schließlich die Hände vors Gesicht, während das tiefe Es einsetzt. Die gesamte Oper über dient ein verwitterter Baumstamm, wohl angelehnt an die bereits sterbende Weltesche, als Kulisse. Dort wird einem zwielichtigen Zwerg einmal ordentlich der Kopf gewaschen: während die Rheintöchter ihn ausziehen, wähnt sich der Liebesgierige beglückt, doch er wird nur in ein Fischnetzkleid der Rheintöchter gezwängt und demütigend veralbert. Er rächt sich, in dem er (entledigt des Kleidchens) eine blonde Frau als Personifizierung des flüssig-tropfenden Rheingolds im Vordergrund aus dem Baumstamm hervorzerrt und ihr bei lebendigem Leibe das Gehirn entreißt. Der selbstermächtigte Alberich in Unterhose, ein triefendes Gehirn über seinem Kopf haltend, das ihn gülden bekleckert, mutiert assoziativ fast zu einer Art biblischen „ersten Menschen“, der der Versuchung erlag, mehr Wissen und Macht zu wollen, als ihm zusteht, und die Natur dafür beraubt – frei nach Koskys ungemütlicher soll-man-da-überhaupt-hinschauen-Komik, die sich dennoch nie über ihre Subjekte lustig macht.

Nach dieser ersten Szene mit sehr viel Haut sind alle immerhin angezogen – und wie. Erda verdingt sich stumm als alte Haushälterin der Götter, die sich ein Picknick an ihrer Baustelle eingerichtet haben, gekleidet in Reitstiefel und Ausrüstung des modernen Landadels; böse gesagt: kleine Möchtegernabenteurer, deren Stiefel noch nie Schlamm gesehen haben. Zudem hängt der Haussegen bekanntlich schief: Fricka und Gatte bekriegen sich zunächst wortlos durch wechselseitig lautes Rascheln mit Papieren; sie liest Zeitung, er seine Baupläne. Die dubios-schicken Riesen mit Anzügen, Tattoos und Goldkettchen scheinen zwar auch keinen Baudreck zu kennen, packen dafür aber besser zu. Die urmütterliche Haushälterin schlägt bei Freias Raub wieder entsetzt die Hände vors Gesicht, mittlerweile zu verstehen als Kommentar über die höchst unmoralische Richtung, die die Geschichte einschlägt.

Das Rheingold/ © 2023 ROH/ Photo by Monika Rittershaus

In Nibelheim dann das Grauen des menschlichen Eingriffs in die Natur zugunsten des Reichtums: Alberich hat das personifizierte Rheingold in einer quälenden Maschine eingesperrt, die offenbar Gold aus den Brüsten abpumpt. Urzeitliche Metaphern über das nährende Wesen von Frauen und Müttern beiseite sei der Chemikerkopf gelobt, der das flüssige Rheingold als essbar ersann – Alberich verspeist, von seiner Macht träumend, genüsslich Handvoll um Handvoll seines Goldes. Alberichs Nibelungen hingegen sind Kinder mit übergroßen, verätzt-geschwundenen Köpfen, ohne Haut, nur noch Knochen und Fleisch, die Münder aufgezogen zum ewigen Schrei. Der eintreffende britische Landadel ist mit seiner Begegnung mit dieser Albtraumvision einer Art Arbeiterklasse, in der Kinder und Wehrlose zu Sklaven und Opfern aufstrebender Gier werden, reichlich überfordert. Auch die Knechtung der Natur in dieser grauenhaften Version ist dem einäugigen Adel fremd – missfällt ihm aber nicht direkt. Wer ruchlos war, muss anschließend selbst dran glauben, oder immerhin sein Finger – Wotan schneidet seinem Kontrahenten kurzerhand selbigen mit einem Klappmesser ab, nachdem Alberich sich weigerte, ihm den Ring zu übergeben. Zumindest Fafners Mord an Fasolt (nach gutbürgerlich-englischer Manier mit einem Cricketschläger, wohlgemerkt) verursacht schweres Unbehagen im Kreis der Durchlauchten. Doch zum scheinglücklichen Ende finden sich alle in Festkleidung unter Konfettiregen ein, um ein musikalisch würdiges Finale einzuleiten.

Christopher Maltman befindet sich als Wotan eindeutig auf der baritonal-liedhaften Seite. Das mag angesichts vieler Bassbariton-Besetzungen für diese Rolle ungewöhnlich anmuten, dennoch: die kraftvolle Höhe ist ein Genuss, im sanften Zusammenspiel mit dem Orchestergraben gedeiht auch die Tiefe. Mit größerer Intelligenz scheint Maltmans Wotan nicht gesegnet, wohl aber mit Ambitionen und Selbstgefälligkeit so schick geschneidert wie die Tweedweste. Im direkten Duell mit dem zwergigen Rivalen trumpft er auf: poliert-smarte Schönheit versus knöchern-raues Draufgängertum. Es siegt ein Gott von maßloser Arroganz, der seine Überlegenheit gern in spöttelnden Gesten auskostet. Das könnte dem Charakter noch drei Opern später in einem unangenehmen Malheur namens Götterdämmerung auf die Füße fallen – doch um Wotans Stimme muss man sich zumindest nicht sorgen; Maltman hält textsicher Stand. Da hat einer am Ende hörbar noch Reserven für zukünftige Opern.

Christopher Purves als Alberich steht seinem göttlichen Rivalen in beinahe peinlicher Schmierigkeit zunächst in nichts nach, bevor der Raub des Rheingolds seine Vorliebe zu gewagten Tönen entfesselt. Er scheut keinen hässlichen Laut um der Charakterisierung willen und gestaltet dennoch ein angenehm ruhiges „niemand sieht mich, wenn er mich sucht…“. Der trocken-boshafte Klang gelingt markant, nicht immer schön, doch diese stimmliche keine-Angst-vor-gar-Nichts-Attitüde schafft ein deutliches Portrait eines Mieslings von unermüdlicher Energie, wenngleich die Dichtung seines Textes gelegentlich etwas frei wird. Gegen Ende verlangt das vorangegangene vokale Draufgängertum seinen Zoll: das Voluminöse in der Stimme leidet ein wenig, doch übel nehmen kann man das kaum. Weniger Energie, weniger Einsatz möchte man sich nicht gewünscht haben.

Die Entdeckung des Abends ist Sean Panikkars Loge, ein lockerer Tenor mit charakteristisch metallener Höhe und Vorliebe für Handküsschen. Seinen einfältigen Auftraggeber überragt er intellektuell um Längen, und wenngleich sein keckerndes Lachen in diesem Hausdebüt noch etwas häufig ertönt, strotzt er doch vor Witz, Lebendigkeit und Einfallsreichtum, die ihn alsbald zu einem Loge erster Güte machen könnten. Einzig, wie Loge in diese Welt hineinpasst, bleibt offen – ein schwarzer Anzug als Kostüm ist in der Aussagekraft bedauerlich blass.

Katharina Konradi (Woglinde) Niamh O’Sullivan (Wellgunde) Marvic Monreal (Flosshilde) Christopher Purves (Alberich)/ Das Rheingold /© 2023 ROH/ Photo by Monika Rittershaus

Marina Prudenskaya als Fricka bringt Stacheln und Selbstbewusstsein in alle Lagen – zukünftig wird sie es ihrem Gatten sicher nicht leicht machen, wie bereits jetzt. Ihre Schwester Freia (sicher: Kiandra Howarth) ist ebenso mit Kampfgeist gesegnet und stellt sich den Riesen zunächst entgegen, obwohl der Charakter von der Regie keine große Ausgestaltung erfährt. Unter den beiden Riesen lässt Fasolts (Insung Sim) ungewöhnlich scharfe Höhe und sein helles Timbre für einen Bass aufhorchen. Wie er in seiner letzten Szene trauernden Blickes in eine flüssiggoldbefüllte Badewanne späht, in der Freia übergossen logiert, zeugt von albern-trauriger Ehrlichkeit des verknallten Mafiosos. Für bassige Tiefen und größere stimmliche Fülle zeichnet derweil sein Bruder Fafner (Solomon Howard) verantwortlich, der sich im Übrigen gern auch an den Picknick-Häppchen der Götter bedient. In einem kurzen Auftritt sticht Brenton Ryan als Mime hervor – jämmerlich schniefend und halber wahnsinnig mit blutenden Verbrennungen an der Schulter lässt der junge Tenor von sich sagen: wehe dem Siegfried, der diesem Mime angetraut wird. Donner (Kostas Smoriginas) und Froh (Rodrick Dixon) sowie die prächtigen Klänge der drei Rheintöchter (Katharina Konradi, Niamh O’Sullivan und Marvic Monreal) ergänzen die gelungene Besetzung. Zuletzt leiht Wiebke Lehmkuhls Altstimme der Erda einen schlanken Biss, klug modulierend und im gekonnten Zusammenspiel mit dem Dirigat. Diese Stimme scheint von Wotan Besitz zu ergreifen, während sich die Bühne schlagartig verdunkelt – ein angenehmer Ruhemoment inmitten praktisch pausenloser Vokalcharakterisierung durch alle Beteiligten. Für eine reine Tonaufnahme wäre die Inszenierung wohl kaum geeignet: es wird geknurrt, geraschelt, geächzt, gekreischt und gekichert.

Sir Antonio Pappano im Orchestergraben lässt sich davon nicht im Geringsten stören. Geschmeidige Klänge ertönen bereits in der Ouvertüre mit lichter Textur zwischen Flöten und Streichern; für das Zwischenspiel nach der ersten Szene tönt es weich aus dem Orchestergraben. Dennoch kostet er nicht nur die Schönheiten der Geschichte aus, sondern auch die reizenden kleinen Gefährlichkeiten. „Nur wer der Minne Macht entsagt“ gelingt düster-tragend; wogend-hallende Metallklänge begründen den Abstieg nach Nibelheim. Nach der Hälfte der Oper erlaubt er sich auch zunehmend kleine Ausbrüche von Lautstärke und bei einem einzigen Patzer der Blechbläser kurz vor Schluss soll es bleiben in diesem sehr genießbaren Abend.

Wer im Laufe der Vorstellung eine leise szenische Ähnlichkeit zu Kasper Holtens Rheingold aus Kopenhagen diagnostizieren will, wird sich nach dem Fall des Vorhangs vermutlich in manchen Momenten bestätigt fühlen. Die Richtung, die Kosky zu einschlagen gedenkt, scheint dennoch eine Andere zu sein. Das Einzige, was diesem starken Anfang noch fehlen könnte, ist eine klar skizzierte Welt: die Weichen für eine Deutung des Rings im Kontext des Anthropozäns und des dystopischen Eingriffs der Menschen in die Natur wäre gelegt, sollte Kosky sich weiter in diese Richtung entwickeln wollen. Die Welt dieses Rings besteht derweil noch ausschließlich aus Symbolen – prägnant und griffig zwar, doch die Erdung dieser deutlich gezeichneten Charaktere in einer erkennbar kohärenten Welt täte ihnen nichtsdestotrotz gut. Zur Lösung dieses Rätsels ist jedoch Geduld geboten. Eine geplante zyklische Aufführung des Rings im Jahr 2027 legt ein Tempo von einer Ring-Oper pro Jahr nahe. Der Schmiedemeister lässt sich Zeit. Die scharfe Zunge will gut poliert sein.

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • ROH / Stückeseite
  • Titelfoto: Das Rheingold © 2023 ROH /Photo by Monika Rittershaus

 

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