Eine Oper voller Gassenhauer: „Denn wie man sich bettet, so liegt man” und noch mehr „Show me the way to the next Whiskey bar” liegen im Ohr und können vom Publikum mit Dank an Lotte Lenya, Jim Morrison und David Bowie schlagerartig mitgesummt werden. Ursprünglich sollte Ivo van Hoves Inszenierung von Kurt Weills Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, die schon 2019 in Aix-en-Provence Premiere feierte, bereits 2020 in Amsterdam zu sehen sein. Die Corona-Pandemie machte dies jedoch unmöglich. Mehr als drei Jahre später ist diese nicht jugendfreie Produktion nun an De Nationale Opera zu erleben.

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Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Nur etwa sechs Jahre dauerte die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Komponist Kurt Weill und dem Dramatiker und Regisseur Bertolt Brecht. In dieser Zeit schrieben die beiden neben Mahagonny, ein Songspiel (1927), Die Dreigroschenoper (1928) und Die sieben Todsünden (1933) auch die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1930). Weill fordert in dieser Partitur ausdrücklich ausgebildete Sänger.

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Evelyn Herlitzius (Leokadia Begbick) und Nikolai Schukoff (Jimmy Mahoney)
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Die hochkomplexe Partitur vereinigt neben musikalischen Formen wie Fugen, Choralvorspiele und Passionsmusik auch Jazz, Blues, Foxtrott, Shimmy, Shanty, Tarantella und Tango und Populärmusik wie Schrammel- und Marschkapellenmusik. Weill verwendet in ironischer Form auch populäre klassische Musik seiner Zeit: so wird Tekla Bądarzewskas „Gebet einer Jungfrau” in Amsterdam auf einem verstimmten Klavier im Original auf der Bühne gespielt und in dem Quartett der vier Holzfäller wird Carl Maria von Webers „Lied vom Jungfernkranz” aus dem Freischütz zitiert.

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Evelyn Herlitzius (Leokadia Begbick), Lauren Michelle (Jenny Smith) und Nikolai Schukoff (Jimmy)
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Regisseur Ivo van Hove und sein fester Bühnenbildner Jan Versweyveld haben mit wenigen, die Fantasie beflügelnden Mitteln Mahagonny in unsere Zeit herübergebracht. Auf einer großen Videoleinwand werden ständig von einem Kameracrew gefilmte Livebilder des Bühnengeschehens projiziert. Damit bringt Van Hove unsere heutige mediale Reizüberflutung äußerst schmerzhaft auf den Punkt. Ständig lenken die verführerischen, teilweise im Green Room sexistisch manipulierten Nahaufnahmen ab vom wirklichen Geschehen auf der Bühne. Vergleichbar mit dem für viele von uns schon automatisierten Blick aufs Handy, machen es die reißerischen Close-ups dem Publikum schier unmöglich, sich auf die im Vergleich dazu „kleinformatigen“ Handlungsabläufe auf der breiten Amsterdamer Bühne zu konzentrieren. Die Videobilder strotzen vor Erotik und Gewalt und kapern konstant unsere Aufmerksamkeit. Nur während des Abschiedsduett von Jenny und Jim, einem der musikalischen Höhepunkte des Abends beruhigen sich die Bilder auf der Leinwand und zeigen zwei Kraniche im Schwebeflug.

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Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Mahagonny ist eine Demonstration wider den Kapitalismus, eine marxistische Parabel, in dem Geld jegliche Moral verdrängt hat. Es ist auch die Geschichte von Sodom und Gomorra: Drei fortflüchtige Straftäter (großartig in allen Facetten ihrer Rollen: Evelyn Herlitzius, Alan Oke, Thomas Johannes Mayer) stiften in der Wüste eine Stadt, um den vergnügungshungrigen Goldgräbern und Waldarbeitern an der Küste das Geld aus der Tasche zu ziehen. Angesichts eines herannahenden Wirbelsturms verkündet der Holzhacker Jim (der kraftvolle Tenor Nicolai Schukoff) seine neue Moral: „Erstens, vergeßt nicht, kommt das Fressen/ Zweitens kommt der Liebesakt/ Drittens das Boxen nicht vergessen/ Viertens Saufen, laut Kontrakt./ Vor allem aber achtet scharf/ Daß man hier alles dürfen darf/ (wenn man Geld hat).“

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Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Das letztere wird Jim zum Verhängnis. Als er seine Zeche nicht bezahlen kann, wird er nach seinen eigenen Gesetzen gerichtet. Sein Tod wird textlich und musikalisch der Kreuzigung Christi nachgebildet: mit der Ölbergszene, der öffentlichen Verspottung, der Gerichtsszene, der Übergabe seiner angebeteten Jenny (sowohl stimmlich als auch schauspielerisch überlegen: Lauren Michelle) an seinen Gefährten Bill (Martin Mkhize), den letzte Hilferuf an Gott und das Durst- und Essigmotiv. Nach der öffentlichen Exekution geht im Saal das Licht aus und schaut Dirigent Markus Stenz von einem einzelnen Scheinwerfer in scharfes Licht getaucht mit angewidertem Blick ins Publikum als wolle er sagen: sind wir nicht alle ähnlich gewissenlos, wenn wir tagtäglich keinen Finger ausstrecken für Menschen in Not? Brechts moralischer Zeigefinger wird mit diesem Regieeinfall humoristisch auf die Spitze getrieben.

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Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Gegen Ende tritt Gott selbst im Spiel in Mahagonny auf und wird, da machtlos, höhnisch der Stadt verwiesen. Die Stadtbewohner setzen zum Schluss in einem Akt zerstörerischer Gruppenhysterie ihre eigene Stadt in Schutt und Asche. Die Chorsänger und Komparsen in den Kostümen von An D’Huys ähneln dabei sehr frappant den wütenden Trump Anhängern bei ihrer Bestürmung des Kapitol.

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Lauren Michelle (Jenny Smith) und Nikolai Schukoff (Jimmy Mahoney)
© Clärchen & Matthias Baus | De Nationale Opera

Van Hove zitiert den amerikanischen Autor Ta-Nehisi Coates: „Die Aufgabe der Kunst ist es nicht, optimistisch zu sein oder jemanden dazu zu bringen, sich besser zu fühlen. Kunst sollte sich mit dem Leben in all seiner Brutalität und Schönheit beschäftigen.“ Das ist dem Ensemble mehr als gelungen!

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