Es werde emotional, Überraschungen und einen Bonus geben, hatte Sir John Eliot Gardiner im vorabgedruckten Interview bei den Salzburger Festspielen zur Tour mit Berlioz' Les Troyens versprochen. Natürlich bezogen auf die Interpretation der von ihm dirigierten Oper. Mit dem abermaligen Auslassen von Béatrice et Bénédict, die Gardiner als zwanzigjähriger Geiger unter Sir Colin Davis gespielt hatte und ebenfalls sehr schätzt, stand im Jahr seines 80. Geburtstags mit Les Troyens – sie lernte er im Gründungsjahr des eigenen Monteverdi Choirs ein Jahr später kennen – nämlich der finale Höhepunkt des erneuerten Berlioz-Zyklus des Orchestre Révolutionnaire et Romantique an. Seit 2015 läuft dieser im Rahmen der BBC Proms, doch auch in Hector Berlioz' Geburtsort La Côte-Saint-André, in Versailles sowie beim Musikfest Berlin.

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Dinis Sousa mit Solisten, dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dem Monteverdi Choir
© SF | Marco Borrelli

Etwas anders als Gardiners Ankündigung gedacht ist es dahingehend geworden, führte mittlerweile allseits bekannter Vorfall dazu, dass der Brite sein Dirigat nach den ersten beiden Akten in Südfrankreich niederlegen musste. Seinen Platz übernahm dafür der künstlerische Assistent des Monteverdi-Teams, Dinis Sousa, der die anerkennungswürdigen und lautstärksten Bravosalven für sein beachtliches Einspringen unter schwierigen Umständen auf der diesmaligen Tourstation Salzburg einheimste. Die Akte I und II hatte er vorher überhaupt noch nicht geleitet, daher auch eine gewisse Verhaltenheit im ersten – vor dann feuerfangender Besinnung auf Gardiners Lust der Extreme, und hier versprach er nicht zu viel! – spürbar, noch nicht das letzte Prozent aus den Instrumenten herauszuholen. Nach wie vor stellt das wunderbare Monumentalwerk, das der Komponist als Latein- und Vergilschüler seines Vaters Louis selbst nicht vollständig zur Premiere realisiert verfolgt hatte, mit Gardiner und seinen Gruppen schließlich die Besonderheit dar, bei all umfassendem Fortschreiten der historisch-informierten Aufführungspraxis auf den Instrumenten, in deren speziellen, den spektakulären Reiz ausmachenden, unersetzbaren Farben in entsprechender Stimmtonhöhe Berlioz dachte, zu Gehör zu kommen.

Zwanzig Jahre ist das erste und letzte Mal her, damals mit einem gewissen François-Xavier Roth als Gardiners rechte Dirigierhand für den Pariser Châtelet, so dass ich besondere Vorfreude auf diese nun von Tess Gibbs selbstredend semiszenisch konzipierte Opernrarität hegen musste. Auch vor allem dadurch gesteigert, dass der doch von Gardiner in der Versailler Oper 2018 präsentierte Mini-Ausschnitt von Les Troyens bei mir seine Funktion als live erlebter Appetizer für geplant Folgendes erfüllte. Nicht nur durch den Pultwechsel sollten nun allerdings unter ein paar wirklich streng getreuen Gesichtspunkten kleinere Abstriche verbucht werden, opferte Gardiner – wie eigentlich ausnahmsweise zuletzt bei L'Enfance du Christ im neuen Londoner Konzertheim von St. Martin-in-the-Fields – unverständlich die stets korrekte antiphone Aufstellung aller vorherigen Berliozbringer zulasten einer amerikanischen. Zudem verzichtete er bei Annäherung an die Originalität, die bei organisatorisch und finanziell nachvollziehbarem Weglassen weiterer hunderter Chorsänger neben seinen bombastisch grandiosen Monteverdis die großen Saxhorn-Bläser-Perkussions-Bühnenmusiken enthielt, auf zwei, durch Gardiners frühzeitige Abreise auf drei der mindestens sechs von Berlioz vorgeschriebenen Harfen.

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Michael Spyres
© SF | Marco Borrelli

Auch in der Besetzung von Paula Murrihy als Dido ließ sich die vom Komponisten eingeforderte „besonders tonerzeugende Reinheit“ der Stimme, auf die Gardiner wiederum dann historisch entsprechend eingehen wollte, nicht richtig festmachen. Zu dauerstark ihr Verständlichkeit nehmender Vibratoschwulst, der just vor allem endlich im Selbstmord deutlicher fiel, um an Stil, Klarheit und Affekt erheblich zu gewinnen. Entscheidungen, die Dinis Sousa natürlich praktisch nicht mehr ändern konnte. Und eben den sonstigen, fernab von der Strenge erhaltenen, dennoch denkwürdigen Gesamteindruck nicht zu nachhaltig schmälerten. Dafür war die professionell aufrechterhaltene und verschworen geniale Qualität von Monteverdi Choir und ORR schlicht allzu phänomenal, die (üblicherweise mit Co-Choreinstudierer Sam Evans) Gardiner auch in diesem überwältigenden Berlioz-Klangzauber penibel auf das Non-plus-ultra-Niveau gebracht hatte. Beim Gefühl für die Idiomatik, dem exakten Einlassen auf die Halbinszenierung – in jeder Hinsicht einer vollständigen Bühneneinbettung und einem traditionellen Opernchor weit überlegen! –, bei der Realisierung der sehr schnellen Tempi, der Flexibilität und der felsenfest-präzisesten, dramatischen Klangpracht macht man dem jetzt auf fünfundsechzig Mitglieder angestiegenen Vokalensemble absolut nichts vor. Ob Kampfesmutgebrüll oder Flehen, jeder Ausdruck fand im Monteverdi Choir seinen Meister.

Selbiges gilt für das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, das in Todesschicksal, Verdammnis, Opferung, Liebesweh und Staatsräson, Märschen, Waffenklirren sowie festlich ausgelassenen Tänzen das Herz aufwühlte und das Große Festspielhaus in Salzburg lautmalerisch in gewaltige Wallungen versetzte. Einfach herrlich und faszinierend, wie die Darmsaiten, historischen Bläser und Riege an Schlagwerken samt Banda im On oder aus dem Off jeglichen Berlioz-Effekt des griechisch-römischen Antikmammuts zu einem schrecklich-schönen, turbulenten, kontrastvollen Wow transparenter Opulenz aufbauten. Bis auf die letzten hohen Töne Michael Spyres' ansonsten alle mit kräftiger, unschlagbarer Leichtigkeit überstrahlenden, diktional durchdringenden Enées kann dies auch von den übrigen Gesangssolisten behauptet werden: Alice Coote mit ihren deutlichen, bebenden, teils schrillen Cassandra-Rufen, Megatalent Laurence Kilsby als lyrischer Tenortraum, die exzeptionell überzeugende Beth Taylor mit blendender Tiefe und William Thomas mit eleganter, ausströmender, warmer Sonorität; außerdem Lionel Lhote, Alex Rosen und Ashley Riches mit kernig-inbrünstigen, runden Bässen sowie Adèle Charvet als forsch-eifriger Ascagne.

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