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Kritik – "Les Troyens" in Salzburg Geht auch ohne Gardiner

Nachdem er gegenüber einem Kollegen handgreiflich wurde, legt John Eliot Gardiner eine Konzertpause ein. An seiner statt stand gestern deshalb der junge Dirigent Dinis Sousa in Salzburg auf dem Podium. Und der machte seine Sache in Berlioz' "Les Troyens" richtig gut.

Alex Rosen (Der Schatten Hectors / Zweiter Wachposten), William Thomas (Narbal), Paula Murrihy (Didon), Dinis Sousa (Musikalische Leitung), Michael Spyres (Énée) | Bildquelle: © SF/Marco Borrelli

Bildquelle: © SF/Marco Borrelli

Gleich zu Beginn im Großen Festspielhaus demonstrativer Beifall für den Retter des fünfstündigen Abends, den 35-jährigen Portugiesen Dinis Sousa. Der hatte nach Gardiners Ohrfeigen-Affäre kurzerhand die Leitung der "Trojaner"-Tournee mit dessen Kollektiven übernommen – eine vergleichsweise undankbare Aufgabe für Gardiners Assistenten und Co-Dirigenten.

Sousa statt Gardiner

Doch Sousa machte seine Sache mehr als gut, er konnte sich auf Gardiners penible Einstudierung der Monstertragödie von Berlioz verlassen – wenn auch schwer zu beurteilen war, inwieweit Sousa Gardiners Konzept umgesetzt hat. Imponierend jedenfalls, wie sicher Sousa mit Präzision und Umsicht den riesigen Apparat aus Gardiners Orchestre Révolutionnaire et Romantique und dessen Monteverdi Choir zusammengehalten hat. Mag sein, dass die Pranke des Löwen Gardiner fehlte – die Gründe dafür sind hinreichend bekannt. Und schwerwiegend.

"Les Troyens" sind Haupt- und Spätwerk von Hector Berlioz, das Libretto hatte er sich aus Begeisterung für Vergils "Aeneis" selbst zusammengereimt. Das mythologische Riesenwerk von 1858 besteht aus zwei Tragödien, die beide mit dem Selbstmord einer emanzipierten Frau enden – dennoch triumphieren beide noch im Scheitern, im selbstbestimmten Tod. Im ersten Teil "Der Fall Trojas" kämpft die Seherin und Unglücks-Prophetin Kassandra gegen die Verblendung ihrer Landsleute, weil sie den Trick der Griechen mit dem trojanischen Pferd durchschaut hat. Um den Eroberern nicht in die Hände zu fallen, nimmt sie sich mit ihren Leidensgenossinnen das Leben. Und im zweiten Teil "Die Trojaner in Karthago" kämpft die Königin Dido um die Liebe von Aeneas, der sie aber im göttlicher Mission verlässt, um in Rom ein neues Reich zu gründen. Didos Selbstmord ist ein Racheakt aus verletzter Liebe, die ihr Recht gegen die Staatsräson einfordert.

Stimmlich nicht restlos befriedigend

Für die Protagonisten-Trias braucht man drei herausragende Sängerpersönlichkeiten, gleich zwei, möglichst gleichrangige Mezzosopranistinnen und einen konditionsstarken Tenor. Die hohen Erwartungen wurden in Salzburg leider nur halb erfüllt. Die britische Sängerin Alice Coote verkörperte die Kassandra zwar so exzessiv wie intensiv, aber ihr wenig tragfähiger Mezzo wurde der Partie nur mit Anstrengung gerecht. Der neue US-Tenorstar Michael Spyres ist ein stämmiger Naturbursche mit kehlig-baritonalem Timbre. Vor allem im großen Aeneas-Monolog des fünften Aktes verließen ihn dann hörbar die Kräfte, und er musste die heiklen Spitzentöne forciert stemmen.

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Im Liebesduett mit der zuverlässigen, klug gestaltenden Dido der irischen Mezzosopranistin Paula Murrihy harmonierten die Stimmen der beiden aber in schönsten Lyrismen – dieses verzaubernde Duett "Nuit d’ivresse – Nacht der Trunkenheit" ist das absolute Highlight der "Troyens". Im vorausgehenden, nicht weniger magischen Septett ließen vor allem die jungen Stimmen aufhorchen: die schottische Mezzosopranistin Beth Taylor mit ihrem interessanten, gutturalen Timbre, und besonders der erst 25-jährige Brite Laurence Kilsby mit seinem glockenhellen, unschuldig reinen Tenor. Oder die beiden Bassisten Alex Rosen und William Thomas – letzterer war der handgreiflichen Attacke Gardiners zum Opfer gefallen. Auf das alberne halbszenische Arrangement mit seltsamen Kostümen, Fäusterecken, pathetischem Schreiten und Niedersinken hätte man gut verzichten können. Konzertant ist halt konzertant.

Die Original-Klangkörper überzeugen auf ganzer Linie

Dinis Sousa | Bildquelle: Sim Canetty-Clark Ersatz für Gardiner: Dinis Sousa | Bildquelle: Sim Canetty-Clark Das Ereignis des fünfstündigen Abends aber war zum einen der fantastische Monteverdi Choir, der vom ersten Ton an durch überwältigende Klangkultur, durch Homogenität, Flexibilität, Präzision und Schlagkraft begeisterte. Zum anderen das Orchestre Révolutionnaire et Romantique – der Sound der alten Instrumente ist schlicht umwerfend. Darunter vier damals neuartige Saxhörner, die vom Saxofon-Erfinder Adolphe Sax Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden, die den späteren Wagner-Tuben ähnlich sehen und vollmundig tönen. Zusammen mit dem reichen historischen Percussion-Arsenal kann Gardiners Orchester durchaus auch einen Höllenlärm entfesseln. Aufgeraut ist der Klang, das alte Blech schnarrt geräuschhaft, die auf Darmsaiten spielenden Streicher harmonieren wunderbar mit dem warmen Holzbläserklang. Dinis Sousa wahrt jederzeit die Klangbalance, koordiniert auch die raffinierten Raumklang-Effekte von Berlioz perfekt, die von der Bühnenmusik hinter der Szene beigesteuert werden. Mit seiner innovativen Instrumentationskunst hat Berlioz einen für seine Zeit unvorstellbaren, oft überraschenden, manchmal auch schockierenden Kosmos an Klangfarben kreiert.

In dieser exemplarischen Realisierung konnte das begeisterte Salzburger Festspielpublikum eine Ahnung davon bekommen, wie "Les Troyens" von Berlioz damals geklungen haben könnten. Über vier Stunden Musik, bizarr, imposant, fesselnd – und keine Minute langweilig. Ja, Gardiner hat schon recht: Diese Monumentaloper muss man in voller Länge aufführen und erleben, mit all den Balletten und Pantomimen, mit all den Sieges- und Trauermärschen, mit all ihrer Melancholie und ihrem Pomp. Bleibt am Ende die Frage, wie es passieren konnte, dass ein epochaler Musiker durch sein unbeherrschtes Verhalten sein Lebenswerk beschädigen konnte.

Sendung: "Allegro" am 28. August ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK

Kommentare (4)

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Montag, 28.August, 23:58 Uhr

Bodoniano

Gardiner

Vor 20 Jahren, im 2003, hatte er schon eine wunderbare Lesung dieses Meiterwerks mit AC Antonacci und S Graham im Paris Châtelet gegeben. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar.

Montag, 28.August, 17:26 Uhr

Beate Schwärzler

"Beschädigtes Lebenswerk?"

Ach nein, sehr geehrter Herr Fridemann Leipold.
Ich sehe das Lebenswerk des auch von mir hochverehrten Sir John Eliot Gardiner, dieses "epochalen Musikers" durch sein "unbeherrschtes Verhalten" nicht beschädigt.
Ich achte Sir John Eliot Gardiner; Ich schätze ihn und sein Tun. Und das bleibt so.

Wenn Sie wüßten, wie mühsam ich mich seit einiger Zeit zusammenreißen muß, um nicht Kinnhaken austeilend loszuziehen und mich an denen zu "revanchieren", die mir so viel
Schlimmeres angetan haben...

Der "fantastische Monteverdi Choir" und "der umwerfende Sound" des "Orchestre Révolutionnaire et Romantique" ... I h r e W o r t e ...
darf Einem, der dies geschaffen und geschafft hat, nicht i n d i e s e n Z e i t e n, auch einmal Alles zuviel werden?

Montag, 28.August, 09:41 Uhr

Gufo

Pranke des Löwen

" Die Pranke des Löwen Gardiner " hat " sein Lebenswerk beschädigt". Diese Aussage scheint mir doch etwas übertrieben.Ein 80 jähriger " Löwe", der die Nerven verliert,ist sicher nicht alltäglich und eher ungewöhnlich.Aber gleich sein Lebenswerk in Frage zu stellen, ist unverhältnismäßig. " Der Löwe" hat sich öffentlich entschuldigt und damit sollte man die Angelegenheit als erledigt betrachten.Wie heißt es so schön : Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.

Montag, 28.August, 00:30 Uhr

Annika Kirschke

Am Ende die Frage

Nein, am Ende steht ein andere Frage. Wie kann es sein, dass Herr Gardiner mit seiner problematischen Arbeitsweise über Jahrzehnte zahlreiche Musiker_innen psychisch beschädigen konnte und das von so vielen geduldet und hingenommen wurde? Die Ohrfeige war kein Ausrutscher. Sie war überfällig.

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