Sabine Devieilhe (Susanna) und Krzysztof Bączyk (Figaro)

Sex und Einsamkeit

Wolfgang Amadeus Mozart: Le nozze di Figaro

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:27.07.2023Regie:Martin KušejMusikalische Leitung:Raphaël Pichon

Die Eröffnungsproduktion im Musiktheater gerät bei den Salzburger Festspielen zum dystopischen Blockbuster. Raimund Orfeo Voigts düstere Bühne und Martin Kušejs Regie bringen keine Erlösung.

Frauen artikulieren ihr Begehren klar und deutlich. Nicht erst seit den emanzipatorischen und feministischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, sondern bereits im späten 18. Jahrhundert. Zumindest tun sie das in Beaumarchais‘ Komödie „Die Hochzeit des Figaro“ und einen Kick deutlicher sogar in Lorenzo da Pontes Libretto zu Mozarts erster italienischer Vertonung für die Wiener Hofoper 1786. Damit steht „Die Hochzeit des Figaro“ in Opposition zu den damals geläufigen Darstellungen eines permissiven Adels und dem dagegen positiv konnotierten Tugendkanon des Bürgertums und dritten Stands. Martin Kušej setzt das für die erste Premiere der Salzburger Sommerfestspiele 2023 in prosaische und nüchterne Bilder. In den deutschen Übertiteln duzen sich Herrschaft und Hausangestellte. Ein ganzes Komparserie-Ensemble verdeutlicht, dass die „schönste Nebensache der Welt“ eigentlich, immer und überall die Hauptsache ist.

Zu oft wechseln die Schauplätze in Raimund Orfeo Voigts Bühne. Klein sind diese Räume nicht, aber hässlich. Eine hohe Kammer, in die schwarze Müllsäcke vom Bühnenhimmel fallen, eine weiße Kachelwand mit trister Badewanne… Richtig zufrieden und froh ist dort eigentlich niemand. Bei der Hochzeitsparty für Figaro und Susanna tanzen alle mit halboffenen Knopfleisten und Kopfhörern. Alan Hraniteljs Kostüme sehen nach größerem Geldbeutel aus und wirken dabei flach wie das gesellschaftliche Ambiente. Das Tribunal, während dem Figaro in Bartolo und Marcellina seine Eltern erkennt, ereignet sich unter ausgelassenem Alkoholeinfluss in einer Bar. Der nächtliche Park ist ein verwilderndes Bodenstück mit Schilf und Sand, dahinter eine Betonmauer. Also eines jener kleinen Areale, wo die Natur in einer denaturierten Umgebung sich eine Nische zurückerobert und ein Pandämonium für flüchtigen sexuellen Spaß wird. Die Oper endet mit Auflösung, aber ohne Erlösung.

Kongeniale Rezitative

Der französische Barock-Spezialist Raphaël Pichon steht vor den Wiener Philharmonikern. Er ließ zu, dass die Szenenwechsel durch das aufgeblasene Rumpel-Sounddesign des in der Besetzung beim Produktionsteam gelisteten Max Pappenheim eine fundamentale Bedeutung erhielten und auch den musikalischen Fluss manchmal bremsten. Das gerät zum Holzhammer-Effekt der gröberen Art. Kongenial dagegen gelingt der freie Umgang mit den Rezitativen. Sätze werden ausgetauscht, übereinandergeschichtet, präzisiert und gehetzt – angemessen zum Turbotempo des „tollen Tags“ im Beaumarchais-Titel.

Statt bei Sevilla spielt die zum dokumentarischen Sittenbild verschmälerte Komödie in gemäßigten Breiten, wo sich der Klimawandel noch nicht sonderlich bemerkbar macht. Auffallend ist, dass man in der Ära egalitär artikulierter Triebhaftigkeit wieder zu binären Extrem Ausweitungen der sexuellen Terrain- und Paar-Kampfzonen findet. Adriana González opponiert als Gräfin Almaviva mit herzerweichender Innigkeit gegen eine Umgebung, in der Seelenschmerz keinen Raum erobert. Sabine Devieilhe als Susanna ist wendig und hat in neben Höhen-Weichheit auch Resolutheit, Serafina Starke ist fast eine Überbesetzung für Barbarina, deren Cavatina von der verlorenen Nadel als Klage um den Verlust ihres Hymens auch zur unausrottbaren Fessel an Moralkonventionen der Mozart-Zeit wurde.

Andrè Schuen als Graf Almaviva und Krzysztof Bączyk in der Titelpartie zeigen, dass Mann jetzt ohne soziale Softskills wie Achtsamkeit, Sanftheit und Sensibilität ans Ziel gerät. Beide haben kerniges Material auch in Piano-Bereichen. Schaumbäder von Bariton-Stimmen gibt es nicht. Wer nicht gerade balzt, zieht Colts – oder man zielt mit der Kamera nach Motiven wie der ebenfalls nicht gerade sonore Peter Kálmán als Bartolo.

Lea Desandre als androgyner Cherubino

Ein besonders steiler Zahn ist die androgyne Lea Desandre als leicht dunkle und dabei sopranig klingender Cherubino. Erstaunlich, wie unbelastet eine der ersten essenziellen Hosenrollen des Musiktheaters den Zeitsprung vom permissiven Spätfeudalismus ins permissive Spät-Anthropozän übersteht. Kristina Hammarström gibt eine sehr jugendliche und sehr initiative Marcellina. Manuel Günther in der stark zusammengestrichenen Partie des Basilio, Andrew Morstein als zum Barkeeper mutierter Don Curzio und Rafał Pawnuk als Antonio führen ihre Aufgaben bestens aus.

Die szenisch präsente Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor (einstudiert von Jörn Hinnerk Andresen) und die bewegte Statisterie-Meute machen nicht den Eindruck, als ob sich an diesem Panorama am Ende der Geschichte schnell etwas ändern würde. Und man ertappt sich bei der Frage, ob das Ende des physischen Sexus nicht doch ein Schritt Richtung mehr Glückseligkeit sein könnte. Es ist zweifelhaft, dass Mozart und da Ponte ähnlich gedacht haben. Insgesamt wurde diese Produktion also ein eher dumpfer, trister und sogar dystopischer Festspiel-Blockbuster, dem die Farben des Lächelns und der Wehmut abhanden kamen – auch, weil das sprichwörtliche Leuchten der Wiener Philharmoniker in dieser verschatteten Lesart ein zu kleines Licht war.