Wagners „Ring“ in Erl :
Beim Sekt im Bett mit Wotan

Von Luca Vazgec
Lesezeit: 5 Min.
Alte Liebe rostet nicht: Simon Bailey als Wanderer Wotan mit Zanda Švēde als Göttermutter Erda.
Mit leichter Hand und großer Raumregie: Brigitte Fassbaender vollendet bei den Tiroler Festspielen in Erl mit „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ ihren „Ring des Nibelungen“.

Vor Abgesängen ist Vorsicht geboten, sie kommen meistens zu früh. Dennoch: ist Erl das neue Wagner-Zentrum? Anders als die Bayreuther Produktion im vergangenen Jahr hat Brigitte Fassbaender mit ihrer Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ darauf verzichtet, die auserzählte Tetralogie in unnatürliche neue Gussformen zu zwängen. Ihre Inszenierung ist stimmig, psychologisch tiefenscharf, kurzweilig und entschlackt, ohne platt zu werden. Igor Strawinskys Vorwürfe vom „rhetorischen Redeschwall“ und der „chronischen Aufgeblasenheit“ des „Rings“ werden hier entkräftet: Die 83 Jahre alte Fass­baen­der vermag es, Neues einzubauen und doch nah am Stück zu bleiben. 2024 wird der vollständige Zyklus im Haus der Tiroler Festspiele Erl zu sehen sein, zusammen mit den bereits aufgeführten Opern „Rheingold“ und „Walküre“ – gewissermaßen als Abschluss von Bernd Loebes Intendanz.

Der nämlich zieht sich nach dem Sommer 2024 aus Erl zurück und konzentriert sich wieder auf die Oper Frankfurt. Bestellt hat er das Haus in Erl gut, sodass sein Nachfolger, der als Intendant unerfahrene Tenor Jonas Kaufmann, von September 2024 an alles in bestem Zustand vorfinden wird. Loebe war 2018 an die Stelle des wegen Belästigungsvorwürfen unhaltbar gewordenen Festspielgründers Gustav Kuhn getreten und wurde – höchst unüblich – nach fünf Jahren erfolgreicher Arbeit gebeten, sich auf seine eigene Stelle zu bewerben (F.A.Z. vom 25. März). Ein offenbar abgekartetes Spiel, um mit Kaufmann mehr Glanz und Glamour in Erl zu installieren.

Junge Sänger brillieren mit Belcanto

Mit den beiden Wagner-Inszenierungen des „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ hinterlässt Fassbaender eine solide und detailreiche, wenngleich wenig überraschende Interpretation. Der „Ring“ hat in Erl Tradition. Wie breit und jung die Festspiele in diesem Jahr gleichwohl aufgestellt sind, zeigte ein Konzert mit jungen Sängern der Internationalen Meisterakademie in Neu­markt in der Oberpfalz. Die her­ausragenden Belcanto-Darbietungen – etwa von Maya Yahav Gour (Alt) und Andrew Hamilton (Bariton) – lassen keinen Zweifel, dass man von diesen Sängern noch viel hören wird.

Im Erler „Siegfried“ sieht Vincent Wolfsteiner als Titelheld in seiner beigefarbenen Pfadfinder-Weste etwas seltsam aus. Und so verhält er sich auch: ungehobelt und hemdsärmelig wirkt in Fass­baenders Inszenierung nicht nur er, sondern auch Christiane Libor als seine Geliebte Brünnhilde. Die Regisseurin verzichtet auf Pathos, sie setzt auf Psychologie. Die Figuren werden zu dem, was sie immer schon waren: Peter Marsh als Mime ist kein lächerlicher Zwerg, sondern ein Größenwahnsinniger mit kaltem Herzen, Manuel Walser als Gunther nur ein Möchtegern-Herrscher, Robert Pomakov als Hagen ein Bösewicht mit menschlichen Zügen. Und Wolfsteiners Siegfried ist kein jugendlicher Sozialrevolutionär, sondern ein unbeholfener, aber nahbarer Held. Egal, ob er mal eben Wotans Macht auf Erden beendet, en passant Libors Brünnhilde aus ihrem Schlaf erweckt oder zu neuen Abenteuern aufbricht und dabei sein Schwert Nothung vergisst – er scheint vom eigenen Tun wenig zu verstehen und luststolpert aus der einen Heldenszene zur nächsten.

Feuerzauber mit hoho und hohei: Vincent Wolfshammer als Siegfried schmiedet sein Schwert Nothung.
Feuerzauber mit hoho und hohei: Vincent Wolfshammer als Siegfried schmiedet sein Schwert Nothung.Xiomara Bender

Fassbaender selbst war einst der Inbegriff der schauspielenden Sängerin, davon lebt auch ihre Inszenierung. Simon Bailey als Wotan und Craig Colclough als Alberich sind dramaturgische Gegenparts – jener als zunehmend altersmilder Gott im Al-Pacino-Mantel, dieser, nach Gold und Ring geifernd, läuft bleich geschminkt erratisch umher und wirkt besonders abstoßend: eben Alberich. Auch bei Peter Marsh als Siegfrieds böswilligem Ziehvater Mime kann man geradezu hören, wie dem Zwerg bei Wotans dritter Frage seine Gesichtszüge entgleiten, so konturiert singt er die Klagen des Todgeweihten zum treibenden Accelerando des Festspielorchesters. Dass er dazu auf der Bühne noch einen Stuhl findet, den er schluchzend sich zur Seite ziehen kann, war wohl dem frühen dramaturgischen Zeitpunkt geschuldet. Denn wenn Mimes Höhle zunächst noch als eine Art Biedermeier-Bauernhof erscheint, so wird nach und nach das Bühnenbild von Kaspar Glarner immer karger, bis Libors Brünnhilde in diffus sphärischer Sarkophag-Atmosphäre unter fallenden Video-Schwebeteilchen allein mit Siegfried auf der Bühne liegt. Der Drache ist übrigens keiner: Glarner, der auch die Kostüme besorgt, steckt Anthony Robin Schneider als Fafner in einen futuristischen Darth-Vader-Aufzug, der Siegfried mit einem Flammenwerfer beschießt.

Während Fassbaender im „Siegfried“ noch mit Spott und Groteske arbeitet, ist in der „Götterdämmerung“ Pathos nicht zu vermeiden. Mit großem Ton und großer Geste lässt sie Libor als Brünnhilde wehklagen und mehrfach im Sessel zusammensinken. Meisterlich nutzt Fass­baender im „Ring“-Finale den Raum: Mal kommen Gesangsstimmen aus den Tiefen der Kulissen, mal direkt von der Empore wie der große Gibichungen-Chor. Zu Beginn des zweiten Aufzugs schreitet Baileys Wotan durch das Publikum auf die Bühne, unterstützt von geschickt platzierten Verfolgern – später guckt er stumm von oben zu. Es spannt sich ein weiter atmosphärischer Bogen vom dunklen Anfang über die leuchtende Liebe zum lachenden Tod. In der Schlussszene des „Siegfried“ stehen Libor und Wolfsteiner so quälend lange an beiden Bühnenenden, dass das brünstige Liebesduett etwas unglaubwürdig wirkt. Gott sei Dank kommen sie endlich zusammen.

Für den Siegfried schon fast etwas zu reif

Einige Schlüsselmomente wirkten freilich schwächer. Siegfrieds berühmtes Schwert-Schmieden bleibt szenisch der vom Dirigenten Erik Nielsen losgelassenen Musiklawine noch ebenbürtig. Doch zur vollen Kraft der Brünnhilde-Akkorde und der Bläser-Soli bei der Liebesvereinigung nimmt sich das Bühnenbild etwas karg aus. Auch für das Bad im Drachenblut – immerhin Siegfrieds Heroenwerdung – setzt Fassbaender mehr auf die Phantasie des Erler Publikums.

Vincent Wolfsteiner gibt einen nuancierten Titelhelden, der aber für seine Figur schon fast etwas zu reif, jedenfalls wenig jugendlich klingt. Sängerisch brillieren Craig Colclough als Alberich, Christiane Libor als Brünnhilde und Simon Bailey als Wotan, auch wenn Erik Nielsens Orchester den mal machtvollen, mal morbid-expressiven Bass des Göttervaters bisweilen zu sehr übertönt. Anna Nekhames bleibt als Waldvogel unter ihren Möglichkeiten – kraftvoll und monumental, aber ein wenig gepresst, schlicht zu laut klingt es von der Brüstung zu den Stelen der Neidhöhle hinunter. An die Agilität einer Papagena erinnern nur Nekhames Kostüm und Frisur. Großartig hingegen, voll sinnlicher und darstellerischer Tiefe singt die auf dem Boxspringbett emporgefahrene Erda, die Marvic Monreal (eingesprungen für Zanda Švēde) gab. Mit Negligé und Marilyn-Monroe-Gebaren liegt sie lasziv neben Wotan, natürlich mit Sektflöte.

In dekadente Gesellschaft geraten: Vincent Wolfsteiner als Siegfried bei den Gibichungen.
In dekadente Gesellschaft geraten: Vincent Wolfsteiner als Siegfried bei den Gibichungen.Xiomara Bender

Fassbaender erzählt in der „Götterdämmerung“ die Geschichte des machthungrigen, gerissenen Hagen (furchteinflößend: Robert Pomakov) und seines Vaters Alberich fast als bürgerliches Trauerspiel. Wolfsteiners derber Siegfried eckt im dekadenten Wohnparadies der Gibichungen gehörig an, denn hier spielt man Billard, schält Bananen mit dem Messer – eine Karikatur spießiger, zur Macht gelangten Bürgerlichkeit. Die Nornen Marvic Monreal, Anna-Katharina Tonauer und Monika Buczkowska sagen als tüttelnd-tratschende Öko-Omas nebenbei die Zukunft voraus, freilich – antithetisch – mit kantabler Leichtigkeit.

Vor Spannung bebt der Dialog von Libors Brünnhilde, die sich auf ihrem Felsen mit aufbrausend gekränktem Sopran gegen die brillante Altistin Katharina Magiera als ihre Walküren-Schwester Waltraute empört. Es ist ein Glanzstück von Fassbaenders Figurenregie, wie auch Pomakovs Interpretation des gern abseitsstehenden Hagen mit scharfem Tremolo und zynischem Schauspiel.

Zieht im Abgang eine ganze Welt mit sich: Christiane Libor als rächende Brünnhilde.
Zieht im Abgang eine ganze Welt mit sich: Christiane Libor als rächende Brünnhilde.Xiomara Bender

Szenisch und musikalisch eindrucksvoll gerät Siegfrieds Tod mit dem berühmten Trauermarsch: Das Festspielorchester trägt den Helden mit ergreifender Melancholie zum Grab, das zu Brünnhildes Scheiterhaufen wird. Von der Empore befehligt Libor mit geschmeidigem, wandelbarem Timbre den Gibichungen ihren letzten Willen, das Ende der Götterwelt, vom Orchester besiegelt mit aufbrausendem Des-Dur-Akkord. Aber Alberich überlebt. Wir können also schon auf den nächsten „Ring“ warten.