Bregenzer Festspiele :
Purzelbaum mit Verdi

Von Werner M. Grimmel
Lesezeit: 4 Min.
Ernani (Saimir Pirgu) und Elvira (Guanqun Yu)
Die Handlung von Giuseppe Verdis Oper „Ernani“ gleicht einem trivialen Ritterroman. Die Regisseurin Lotte de Beer macht daraus bei den Bregenzer Festspielen einen knalligen Comic. Und was soll man sagen? Es funktioniert!

Wie kann man so eine Handlung bloß auf die Bühne bringen?! Francesco Maria Piaves Libretto für Giuseppe Verdis Oper „Ernani“ basiert auf dem romantischen Drama „Hernani“ (1830) von Victor Hugo. Die bei Piave ziemlich naive Story kreist um drei mafiöse Ehrenmänner, die sich wie Warlords in wechselnden Waffenbrüderschaften einen Kampf um dieselbe Frau liefern. Das erinnert an einen trivialen Ritterroman, doch sollte man sich von Unwahrscheinlichkeiten und Inkonsequenzen nicht täuschen lassen. In Verbindung mit Verdis Musik beginnt der Plot plötzlich auf ganz andere Weise zu funktionieren, sofern die Regie einen Schlüssel dazu findet und ein Gesangsensemble bereitsteht, das die Kunst des späten italienischen Belcanto beherrscht. Beide Bedingungen erfüllt die Neuproduktion von „Ernani“, mit der die Bregenzer Festspiele jetzt eröffnet wurden.

Lotte de Beer hat für ihre Inszenierung die Comic-Qualitäten in Kolportage, Slapstick und Knalleffekten bei Verdi entdeckt und aus der Not dramaturgischer Mängel eine Tugend gemacht. Sie versucht gar nicht erst, das krude Geschehen in den Griff zu bekommen. Stattdessen tritt sie die Flucht nach vorn in freiwillige Komik und unterhaltsame Zuspitzung an.

Christof Hetzer erschafft eine Fantasy-Welt

Christof Hetzers Ausstattung lässt in eine dystopische Fantasy-Welt blicken. ­Lächerliche Römerhelme, Holzschwerter, Halskrausen, Reifrockteile, alte Mieder zitieren Kleidung und Gegenstände verschiedener Epochen. Manche Massentableaus gemahnen an Gemälde von Goya, andere Szenen spielen sich zwischen kahlen weißen Wänden ab. In diesem Kontext entfalten scheinbar sinnfreie Vorgänge ihre eigene, an fremdartigen Regeln orientierte Logik in der Art eines „Pen and Paper“-Spiels. Zusammen und am Laufen gehalten wird es allein durch die Musik, die als Lebensnerv durch das Labyrinth des Librettos führt und dessen konzeptionelle Wunden heilt.

Zur Ouvertüre stürmen Männerhorden herein, die sich in Kampfposen gefallen und ständig in die Haare kriegen. In ihrer Mitte verkündet der Bandit und adlige Rebell Ernani zu Trippelschritten orchestraler Begleitung singend seinen Herzschmerz. Der Tenor Saimir Pirgu gibt da seine beeindruckende vokale Visitenkarte ab und trumpft dann mit voluminöser Macho-Stimme auf. Unvermittelt blitzen im Gewimmel Messer auf. Mit Salti, Purzelbäumen und Flickflacks wirbeln Mitglieder der Stunt Factory über die Bühne, mischen sich unter den Chor und zelebrieren eine von Ran Arthur Braun perfekt einstudierte Kampfchoreographie.

Hauen und Stechen der Stuntmen zwischen den Choristen in Bregenz, bei Verdis „Ernani“
Hauen und Stechen der Stuntmen zwischen den Choristen in Bregenz, bei Verdis „Ernani“Bregenzer Festspiele/Karl Forster

Szenenwechsel. Ein grellweißes Zimmer mit kahlen Wänden. Ernanis Geliebte Elvira liegt auf einem keimfrei gereinigten Bett und träumt von Freiheit. Herzog Silva, ein alter Knacker, hält sie gefangen und will sie heiraten. Als seine dienstbaren Geister – hübsch trällernde Chorfrauen – die Brautkleider bringen, plaudert Elvira in einer Arie ihre Fluchtphantasien aus und trampelt trotzig auf Silvas Geschenken herum. Guanqun Yu weiß sich gegen ständige Übergriffe zumindest stimmlich mit strahlender Sopranfülle zu behaupten.

Ganz unerwartet platzt nun der Pappkronenkönig Carlo als dritter Verehrer Elviras durch die Papierwand von deren Zimmer. In völliger Verkennung seiner Hässlichkeit macht er sich Illusionen über seine erotische Ausstrahlung. Franco Vasallo tönt anfangs etwas gaumig, steigt dann jedoch mit betörendem Bariton in ein wonniges Duett mit der Angebeteten ein und ignoriert aufdringlich deren Abwehr. Goran Jurić ist als buckliger Tattergreis Silva mit Rollator unterwegs. Obwohl der Alte von Carlos Bodyguards wüst zugerichtet wird, erweist er sich als erstaunlich zählebig. Jurićs kräftig-sonorer Bass verleiht dem rachsüchtigen Rivalen Ernanis eine unheimliche Note.

Enrique Mazzola lässt die Wogen fluten

Enrique Mazzola spornt die Wiener Symphoniker zu flüssigem, präzisem, blitzsauberem Spiel an, lässt Streicherwogen fluten, Bläserfarben magisch aufblühen und entlockt dem Blech düster warnende Signale. Der von Lukáš Vasilek akkurat vorbereitete Prager Philharmonische Chor hält auch bei zackigen Marschrhythmen und viel Bühnengewusel exakt Schritt. Wenn der volle Schwall seines Klangs, unterpulst von Orchesterbässen, mit Wucht über die Szene schwappt und sich geradezu überschlägt, gelingen grandiose Momente. Bei fröhlichen Tänzchen wähnt man sich in einem grotesk kostümierten Musical. Die Inszenierung bleibt stets auf Tuchfühlung mit dem Pathos des jungen Verdi, seiner theatralischen Drastik. Kaum durchbricht auch Ernani wie ein Geschoss jene Papierwand, ist schon die nächste Schlägerei im Gang. Kunstblut fließt. Bei einer Vergewaltigungsorgie fliegen Petticoatfetzen durch die Luft.

Dass in dieser kaputten, moralisch verkommenen Kriegerwelt ein Schwur als verlässliche Garantie gilt, kann nur den überraschen, der ihre archaischen Ehrbegriffe nicht kennt. Ernani gibt seinem Feind Silva ein Jagdhorn als Pfand, das diesem ermöglicht, ihn quasi per Fernsteuerung in den Selbstmord treiben. Wenn Silva hineinbläst, ist der Titelheld durch seinen Eid verpflichtet, sich umzubringen. Vorher überkommt den zum Kaiser gewählten Carlo mit nunmehr megahoher Pappkrone auf einmal Milde, doch die Freude über seine Hochzeitserlaubnis für Ernani und Elvira währt nicht lange. Der böse Silva aktiviert die Mechanik des Hornsignals, das Ernani an seinen fatalen Schwur erinnert. Er muss sich vor den Augen Elviras erstechen. Seine Ehre gebietet es.