Unter Giuseppe Verdis Opern fristet Ernani in der neueren Aufführungsgeschichte ein Mauerblümchendasein. Dies liegt weniger an der Musik als vielmehr an der problematischen Handlung. Dass sich gleich drei Männer in dieselbe Frau verlieben, geht ja noch an – das kommt auch im realen Leben vor. Aber dass sich der Titelheld am Schluss erdolcht, obwohl er im Wettstreit der drei Buhler als Sieger hervorgegangen ist, will einem heutigen Publikum partout nicht einleuchten. Er tut es aus einem übersteigerten Ehrgefühl heraus. Denn er hat sein Leben einem der beiden Konkurrenten verpfändet, der ihn bereits früher hätte umbringen wollen, ihn aber damals aus Gastfreundschaft verschont hat.

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Guanqun Yu (Elvira)
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Bei den Bregenzer Festspielen hat man es dennoch gewagt, Ernani in einer Neuproduktion herauszubringen. Nicht auf der Seebühne, wo heuer die Wiederaufnahme von Puccinis Madama Butterfly gezeigt wird, sondern im Festspielhaus. Intendantin Elisabeth Sobotka hat die heikle Aufgabe der Wiener Volksoper-Direktorin Lotte de Beer übertragen, die man in Bregenz bereits seit ihrer Inszenierung von Rossinis Mosè in Egitto im Jahr 2017 kennt. Als Dirigent der traditionellerweise mitwirkenden Wiener Symphoniker hat Sobotka den Belcanto-Spezialisten Enrique Mazzola verpflichtet.

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Guanqun Yu (Elvira) und Saimir Pirgu (Ernani)
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Die weibliche Sicht auf Ernani bringt tatsächlich eine erfrischend neue Perspektive, die dem Stück guttut, wenngleich oft zu dick aufgetragen wird. De Beer zeigt die drei Protagonisten und ihr Gefolge, ganz im Geist des heutigen Gender-Diskurses, als Vertreter einer toxischen Männlichkeit. Der entmachtete Herzog Ernani, der nun als Anführer einer Bande Angst und Schrecken verbreitet, sinnt nur auf Rache. Hat er es doch nicht nur auf den spanischen König Don Carlo abgesehen, der seinen Vater umbringen liess, sondern auch auf Graf Silva, der ihm seine geliebte Elvira streitig macht. Dass Ernani trotzdem als Sympathieträger erscheint, liegt am gewinnenden Rollencharakter von Saimir Pirgu und seiner strahlenden Tenorstimme.

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Saimir Pirgu (Ernani)
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Als Parodiefigur zeichnet de Beer den Grafen Silva von Goran Jurić. Dass der cholerische Alte, der die ganze Zeit auf einem Rollator umherhinkt, tatsächlich Chancen hat, seine Nichte Elvira zu ehelichen, glaubt natürlich niemand. Vom Libretto her ist Silva eigentlich der Bösewicht, aber in der Deutung der Regie gibt es im zweiten Akt einen Moment, wo man mit ihm sogar Mitleid empfindet: da, wo er von den Soldaten des Königs brutal gefoltert wird, dass sein (Theater)-Blut meterweise an die weisse Wand spritzt. Sehr zwiespältig ist der Don Carlo von Franco Vassallo gezeichnet: als Lüstling und brutaler Vergewaltiger mit imperialer Baritonstimme, der mit seinem entblössten Oberkörper und der bescheuerten Spielzeugkrone überhaupt nicht wie ein Monarch aussieht. Wenn Carlo dann im Aachen-Akt als frischgebackener Kaiser Karl V. plötzlich zum geläuterten Philanthropen wird und „gnädig” auf Elvira verzichtet, wirkt das reichlich unglaubwürdig.

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Ernani
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Toxische Männlichkeit zeigt sich auch im „Stab” der drei Hauptfiguren, nicht nur in der Soldateska des Königs, sondern ebenso bei den Festungswachen Silvas und den Banditen Ernanis. Verantwortlich dafür zeichnen zur Hauptsache acht Pantomimen der Stunt-Factory, die ständig mit ihren Schwertern, Dolchen und Messern herumfuchteln und dabei wahre Zirkusakrobatik ausüben. Als Zuschauer ist man da hin und hergerissen zwischen Entsetzen und Ergötzen. Die Tragik hat in dieser Inszenierung stets auch eine komische Seite.

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Ernani
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Und Elvira, die einzige weibliche Hauptfigur? Vom Ausstatter Christof Hetzer mit weissem Schleier und kurzem Reifrock leicht ironisierend als „Braut für alle” markiert, weiss sie sehr wohl, wem sie angehören will. Auf die Rivalitäten der drei Buhler reagiert sie mit Abscheu. Im zweiten Bild des ersten Akts, wo die drei Rivalen in ihr Gemach, das nur durch Papierwände geschützt ist, eingedrungen sind und einander gegenseitig bedrohen, steht sie angewidert abseits, als wollte sie sagen: „Jungs, ihr seid doch unverbesserliche Machos”. Guanqun Yu zeigt einen selbstbewussten Charakter und verfügt über einen Sopran mit grossem Ambitus und reichen Ausdrucksmöglichkeiten. Wie unterschiedlich klingen doch ihr erstes Duett, wo Ernani ihr vorwirft, dass sie in die Hochzeit mit Silva einwilligt, und das Schlussduett, wo die Innigkeit der Liebenden durch den Hornstoss unterbrochen wird, mit dem Silva den Selbstmord Ernanis einfordert.

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Franco Vassallo (Don Carlo)
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Von der musikalischen Seite her lohnt sich die Begegnung mit Ernani auf jeden Fall. Die 1844 in Venedig uraufgeführte Oper bedeutet eine interessante Zwischenstation auf Verdis kompositorischem Weg zwischen Nabucco und Rigoletto. Sie kann als Befreiung von den schematischen Formeln des Belcanto seiner Vorgänger Rossini, Bellini und Donizetti bezeichnet werden. Ein Kennzeichen des Werks ist das, was Anselm Gerhard im Programmheft als „fragmentierte Melodien” bezeichnet. Dazu gesellen sich neue Qualitäten der Instrumentation, ganz besonders in den düsteren Holzbläserklängen des dritten Akts, der am Grab Karls des Grossen spielt.

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Saimir Pirgu (Ernani) und Guanqun Yu (Elvira)
© Bregenzer Festspiele | Karl Forster

Enrique Mazzola, der in Bregenz auch Madama Butterfly dirigiert, ist einem philologischen Interpretationsstil verpflichtet. Was für ihn zählt, ist die Autorität von Verdis Partitur und nicht die Aufführungstradition mit ihren eigenwilligen Modifikationen. Das klingt dann bei der Aufführung bisweilen recht streng und kontrolliert, gibt dem musikalischen Fluss aber auch eine packende Stringenz. Die Wiener Symphoniker setzen die Intentionen des Dirigenten mustergültig um, und die Damen und Herren des Prager Philharmonischen Chors schlüpfen gekonnt in die Rollen von Banditen, Brautjungfern, Rittern oder Kurfürsten.

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