Athen, Griechische National Oper, LE VOYAGE DANS LA LUNE - Jacques Offenbach, IOCO Kritik, 21.07.2023

Athen, Griechische National Oper, LE VOYAGE DANS LA LUNE - Jacques Offenbach, IOCO Kritik, 21.07.2023
GREEK NATIONAL OPERA © Wikimedia Commons
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LE VOYAGE DANS LA LUNE (1875) - Jacques Offenbach

- Märchen-Oper in vier Akten nach Romanen von Jules Verne. Libretto - Albert Vanloo, Eugène Leterrier, Arnold Mortier -

von Peter Michael Peters

  • OFFENBACH IN DER MUSIKGESCHICHTE
  • Quel charmant voyage!
  • Dans un obus qui fend l’air,
  • Nous marchons un train d’enfer
  • Emportés loin de la terre,
  • Au millieu du vaste éther.
  • Et tous les cheminant de concert,
  • Sans qu’aucun en ait souffert,
  • Droit vers le monde lunaire
  • Nous filons comme l’éclair.
  • Ah ! comme cela va faire
  • Du tort aux chemins de fer !  (Rondeau du Prince Caprice / 2. Akt / Ausschnitt)
Jacques Offenbach in Montmartre © IOCO
Jacques Offenbach in Montmartre © IOCO

Verbunden mit einer begeisterten Lebensfreude löst Jacques Offenbachs (1819-1880) Werk Le Voyage dans la Lune ein Schwindelgefühl aus! Ein köstlicher Schwindel im wahrsten Sinne des Wortes hervorgerufen durch seine schwindelerregende Musik… Das gewaltige Aufbrausen im prachtvollen Glanz eines überaus dekadenten Zweiten Kaiserreichs symbolisiert das kollektive Gedächtnis, das in einem unstillbaren Rausch des Vergnügens in den Untergang gestürzt wurde. Diese verführerische, aber reduzierende Vision verdient offensichtlich eine Nuancierung, wie so viele andere hartnäckigen Legenden, die sich um denjenigen rankten, der obwohl er in Deutschland geboren wurde: Schnell einer der größten Pariser Komponisten wurde. Obwohl sein Werk trotz der vielen mutigen Bemühungen einiger Opernhäuser, die schon ausgetretenen Pfade zu verlassen, weitgehend unbekannt ist und somit verdient er eine gründliche Neubewertung…

Der permanente Spott…

Im Pantheon der großen Komponisten nimmt Offenbach einen einzigartigen Platz ein. Er ist vor allem Schöpfer einer Musik-Gattung, das der alltägliche Gebrauch unter den Namen Operette vereinigt. Aber leider  wird er gewissermaßen als „Schwarzes Schaf“ für eine bestimmte Gruppe von Musikern und Musikliebhabern hingestellt, die über sein Werk bereitwillig ein äußerst verächtliches und auch von unverhüllter Herablassung durchdrungenes Urteil über seine Werke werfen. In Verbindung mit der kaiserlichen Partei und dieser freudigen Apokalypse, die unaufhaltsam zur Niederlage von Sedan führte, konnte seine „leichte“ Musik in ihren Augen nicht annähernd den Vergleich mit den großen Ton-Schöpfern ernsthaft standhalten. Um sich nur auf die lyrische Welt zu beschränken, wie könnten seine Werke tatsächlich mit den immensen Meisterwerken seiner berühmten Zeitgenossen wie Giuseppe Verdi (1813-1901) und Richard Wagner (1813-1883) verglichen werden? Die sehr frivole freche La Belle Hélène (1864) gegenüber Monumenten wie Don Carlos (1867) oder Tristan und Isolde (1865)? Aber doch! Aber  Offenbach ist, was auch immer seine Kritiker denken mögen, der Schöpfer eines erstaunlichen Universums von unerreichbarem Reichtum und außergewöhnlicher Schönheit, das in der Musik und des Theaters sehr starke unauslöschliche Spuren hinterlassen hat. Wenn die Operetten z. B. von Franz von Suppé (1819-1895), Johann Strauss II. (1825-1899) und Arthur Sullivan (1842-1900) der schlagende Beweis dafür sind, haben  sie auch die Bewunderung von Emmanuel Chabrier (1841-1894) als auch von Arnold Schönberg (1874-1951) oder Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) geweckt und ganz zu schweigen von Richard Strauss (1864-1949), der im Jahre 1916 bekräftigte, dass er die Berufung verspürt, „der Offenbach des 20. Jahrhunderts zu werden!“

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Was bei dem Komponisten seit der Gründung seines Théâtre Bouffes-Parisiens im Jahre 1855 besonders auffällt und auch wesentlich zu seiner Berühmtheit beigetragen hat: Ist ein beispielloser Sinn für Spott! Nichts entgeht seinem scharfen Blick, von den heiligsten und natürlich auch staatlichen Institutionen bis hin zu unserem gesamten westlichen Kulturerbe. Mit offensichtlicher Freude kratzt er an der Macht in all ihren Formen, verdreht mit höhnisch-freudevoller Begeisterung die griechisch-römische Mythologie, das Mittelalter oder das romantische Drama und parodiert mit jubelndem Eifer die großen Opern seiner Zeit. Orphée wird zu Hause ein untreuer Ehemann, die Götter des Olymp benehmen sich wie stumpfsinnige Bürger des Zweiten Kaiserreichs, die Kreuzfahrer feiern im Château d‘Asnière und Venedig ist Schauplatz einer burlesken Tragödie, in der zwei Dogen sich über den fettreichen und sehr ergiebigen Thron streiten. Mit der Komplizenschaft seiner Librettisten, an deren Spitze wir Henri Meilhac (1831-1897) und Ludovic Halévy (1834-1908) stellen müssen, versteht er es, sich den schwierigsten und ungewöhnlichsten Themen auf äußerst skurrile Weise zu nähern und das zu erreichen, was Claude Debussy (1862-1918) eine „transzendentale Ironie“ nennt. Als schelmisch-boshafter Beobachter ist er in gewisser Weise ein Nachahmer von Paul Gavarni (1804-1866) und Honoré Daumier (1808-1879), den beiden Zeichnern, mit denen er oft verglichen wurde, weil er es verstand beeindruckende Porträts mit einem erdigen uns saftigen Charakter, eben echte Typen zu erschaffen: Wie z. B. der dicke Choufleuri (M. Choufleuri restera chez lui de… / 1861), der groteske Général Boum (La Grande-Duchesse de Gérolstein / 1867), der Dandy Raoul de Gardefeu (La Vie parisienne / 1866) oder der junge lebensfreudige Oreste (La Belle Hélène).

So wie Jean-Baptiste Molière (1622-1673)  der „Großen Komödie“ sein Adelsdiplom gab, so hat der Komponist von La Périchole (1868) seinerseits wie kein anderer vor ihm das „Lachen in die Musik“ eingeflößt. Wenn es Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), Gioachino Rossini  (1792-1868) oder Gaetano Donizetti (1797-1848) sicherlich hervorragend gelungen ist, die manchmal sehr amüsante Atmosphäre von Le nozze di Figaro (1786), Il barbiere di Siviglia (1816) oder Don Pasquale (1843) zu übersetzen, so kann man aber auch sicherlich zustimmen, dass der ureigenste  komische Aspekt der Werke von Offenbach gemessen an den vielen verrückten Ausbrüchen von irrsinniger Heiterkeit seinesgleichen sucht wie z. B.: Orphée aux Enfers (1858), La Belle Hélène oder La Vie parisienne! Bei Offenbach ist es ein beispielloser wirbelnder Strom von Lust und Heiterkeit, der sich plötzlich über die lyrische Bühne ergießt, es ist eine bis zum äußersten Höhepunkt getriebene Parodie, die die bis dahin lyrische Dramaturgie zu Fall bringt und es schließlich auch der musikalischen Possenreißerei gelingt: Die  große Kunst damit zu erreichen! Er, der sehr oft Verschwörer in seinen Werken zeigte, führt auf seine Weise gewaltige musikalische Verschwörung gegen Langeweile und Trübsinn an. Ein Jahrhundert zuvor hatte Jean-Philippe Rameau (1683-1764) mit seiner Platée (1745) zwar den Weg geebnet, doch das Werk blieb ohne wirkliche Nachfolger.

Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Enzo Bishop (Le Roi Cosmos), Kinder- und Jugendchor © Stefan Brion
Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Enzo Bishop (Le Roi Cosmos), Kinder- und Jugendchor © Stefan Brion

Dieses entfesselte Fröhlichkeit kann mit einem verzweifelten Wettlauf in Richtung eines tiefen dunklen Abgrunds verglichen werden und ist oft auch untrennbar mit den äußerst frenetischen Rhythmen verbunden, die im lyrischen Repertoire außergewöhnlich erscheinen. Mit diesem einmaligen und seltenen Genie ausgestattet, weiß Offenbach wie man unglaubliche nie gehörte Klangströmungen erzeugt. Seine Musik scheint im Einklang mit einer Epoche des industriellen Aufschwungs zu stehen, in der insbesondere die Transportmittel exponentiell wuchsen, insbesondere die Eisenbahn, die er selbst auf seinen unzähligen Reisen zwischen Frankreich, Österreich und Deutschland nutzte. Wie können wir uns also wundern, dass der 1. Akt von La Vie parisienne in einem Bahnhof spielt und wir dort eine seiner hektischsten Rhythmus-Sequenzen  hören können „La vapeur nous amène“ ?

Ein delikater Überfall aus dem Hinterhalt…

Trotz einer  einzigartigen vis comica lässt sich Offenbach nicht allein auf seine komische Dimension reduzieren! Als Cello-Virtuose widmet er seinem Instrument zahlreiche Werke, wie etwa die  bewegende Melodie Larmes de Jacqueline (1853). Zärtlichkeit, Nostalgie und der Ausdruck zarter Gefühle  sind in seinem Schaffen allgegenwärtig, sowohl in seinem Instrumental-Repertoire als auch in seinen Melodien mit Klavierbegleitung oder auch seine szenischen Werke. Sogar seine ausgefallensten verrücktesten Stücke behalten immer genügend Raum für den Ausdruck  verliebter Schmeicheleien und einige fallen unter die sentimental-komischen Opern, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts von François-André Danican Philidor (1726-1795), André Grétry (1741-1813) und Nicolas Dalayrac (1753-1809) entwickelt wurden und die Offenbach offensichtlich für seine Inspiration beansprucht.

Das andere große Vorbild, erhaben und unübertroffen, ist Mozart! Wie er sucht er das Ideale durch die Reinheit der Melodie, die Raffinesse der Orchestration und die Aufrichtigkeit der Emotionen. Mehrere Partituren berühren unweigerlich die unübertreffliche göttliche Tonsprache des schon frühvollendeten Salzburger Genies, wie z. B. Le chant de l‘angélus aus Le Mariage aux lanternes (1857) oder auch das Duett zwischen Pauline und dem Baron de Gondremarck aus La Vie parisienne. Zweifellos hatte Rossini hundertmal recht, als er ihn „le Mozart des Champs-Élysées“ nannte, ein Kompliment das Offenbach höchst erfreut haben musste.

Offenbach wurde zwei Jahre vor der Uraufführung von Der Freischütz (1821) von Carl Maria von Weber (1786-1826) im Rheinland geboren und war durch seine jahrelange musikalische Ausbildung auch sehr von der deutschen Romantik durchdrungen. Ein gewaltiger unüberhörbarer musikalischer Hauch und auch eine typische Atmosphäre von Weber sind in Les Fées du Rhin (1874) oder auch in Fantasio (1872) zu finden. Aber noch grundlegender ist, was wir im Werk des „Großen Jacques“ entdecken können, ist diese unerhörte romantische Sensibilität in seinem ganzen inneren Wesen, mit ihrem inhärenten Teil eines irren und total verrückten Tick und den metaphysischen Angst-Träumen, die z. B. ihre unüberhörbaren bittersüßen dunklen Töne in La Périchole ausbreitet. Als echter doppelköpfiger Janus erkennt Offenbach in Alfred de Musset (1810-1857) und insbesondere in Fantasio, dem Narren mit dem traurigen Herzen: Eine intime Seelen-Verwandtschaft!  Und deshalb offenbart er in Les Contes d‘Hoffmann (1881/1911) endlich das ganze Ausmaß seines einmaligen genialen Talents, zwischen den grinsenden, leichten, tragischen und desillusionierten Tönen, die die ganze Komplexität seines Wesens offenbaren.

Die umgekehrte Welt…

Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Rachel Masclet (La Reine Popotte Cosmos), Enzo Bishop (Le Roi Cosmos), Franck Leguerinel (Le Roi V'lan) © Stefan Brion
Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Rachel Masclet (La Reine Popotte Cosmos), Enzo Bishop (Le Roi Cosmos), Franck Leguerinel (Le Roi V'lan) © Stefan Brion

Nach einem Artikel von Théophile Gautier (1811-1872), der einer Revue Qui veut voir la lune? gewidmet war und im Théâtre Château-d’Eau im Jahre 1871 präsentiert wurde und somit schlugen die  Librettisten Arnold Mortier (1843-1885), Albert Vanloo (1846-1920) und Eugène Leterrier (1842-1884)  Offenbach ein neues aktuelles Thema für eine Komposition vor, aber der Komponist und Direktor des Théâtre de la Gaîte, schlug diese Idee kategorisch ab, denn die enormen Kosten für eine solche Mond-Produktion würde wohl das Budget des Theaters schwer belasten. Lehnte er als Unternehmer die Idee ab, akzeptierte er sie jedoch später als Komponist. Zunächst im Théâtre du Châtelet geplant, erfolgte die Uraufführung der Märchen-Oper schließlich doch im Théâtre de la Gaîte, wo Albert Vizentini ( ) am 1. Juli 1875 die Direktion antrat. Er konnte sich dazu beglückwünschen, dass er diesem Werk einen erheblichen finanziellen Aufwand gewidmet hatte, denn die Produktion erreichte mehr als 200 Aufführungen.

Wie man sehen kann, hat das Libretto nur sehr wenig Bezug zu den Romanen De la Terre à la Lune (1865) und Autour de la Lune (1869), die Jules Verne (1828-1905) als Serie im Journal des débats und später dann bei dem Verleger und Buchhändler Pierre-Jules Hetzel (1814-1886) veröffentlicht hatte. Mit Ausnahme der genau beschriebenen phantasievollen  Fortbewegungsart  für die Durchquerung des Weltraums  à la Verne, erfanden die Librettisten von Grund auf eine völlig neue Handlung und die urkomischsten und albernsten Charaktere: Die man sich nicht einmal vorstellen kann! Dies ist zweifellos der Grund, warum der Autor, nachdem er zunächst große Unzufriedenheit gezeigt hatte, wie aus einem Brief an seinen Verleger hervorgeht, keine rechtlichen Schritte gegen Offenbach eingeleitet hatte. Die beiden kannten sich schon seit vielen Jahren, seit Verne das Libretto einer 1858 uraufgeführten Operette Monsieur de Schimpanzé mit einer Musik von Aristide Hignard (1822-1898), als Sekretär des Théâtre-Lyrique von 1852 bis 1855, war der zukünftige weltberühmte Autor von Voyages extraordinaires (1866/1895)  vielleicht auch dort dem Komponisten begegnet, der sich damals um eine Aufführung eines seiner Werke bemüht hatte und 1854 sogar für die Direktion des Theaters kandidierte.

Obwohl Verne seine Ambitionen als Dramatiker  schon sehr früh aufgab und sich ab 1862 nur dem Schreiben seiner berühmten Romane widmete, triumphierte  er dennoch im Theater, indem er einige seiner Werke mit Adolphe d’Ennery  (1811-1899) für die Bühne adaptierte. Das Le Voyage dans la Lune  sehr weit von Verne entfernt ist bleibt wohl offensichtlich eine Tatsache, aber dennoch versuchte Offenbach zweifellos die gewaltige Siegeswelle mit auszunutzen, die das Schauspiel Le Tour du Monde en 80 Jours (1874) im Théâtre la Porte-Saint-Martin hatte. Die einzige Zusammenarbeit zwischen den beiden Künstlern wird 1876 stattfinden, indem Verne diskret und ohne jegliche Urheberrechte anzufordern, bei der Erschaffung des Librettos für Le Docteur Ox (1877) mitarbeitete.

Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Solisten, Kinder- und Jugendchor der Opéra Comique Paris und Greek National Opera © Stefan Brion
Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Solisten, Kinder-, Jugendchor der Opéra Comique Paris und Greek National Opera © Stefan Brion

Eine skurrile Adaption…

Ohne die Gesellschaftskritik wie z. B. in Le Roi Carotte (1872) zu treiben, enthält dieses neue Märchen dennoch einige Elemente der bitter-bösen und hämischen Satire, die hauptsächlich auf der Umkehrung der menschlichen Werte basieren, die wir auf dem Mond beobachten können. Daher kann niemand König in dieser mondblassen Welt sein, außer wenn er von den Einwohnern, genannt Séléniten, gewählt wurde. Dazu muss dieser auch der reichste, aber auch  besonders der dickste und fetteste aller Bewohner sein! Dies ist der Fall vom Roi Cosmos, der sich sehr über die viele Arbeit beklagt, weil er „von morgens bis abends“ in seinem Palast nach neuen Reichtümern graben muss und dessen Wände aus Glas sind und es somit dem Volk ermöglicht: Ihn ständig zu beobachten! Da er keine Diener hat, muss er die gesamte Arbeit selber machen. Der Finanz-Minister verliert seine Position, als es sich herausstellt, dass er aus Sorge um das Gemeinwohl Geld aus seiner Tasche nimmt und es in die Schatzkammer des Königsreichs steckt. In dieser Gesellschaft, in der jeder mit einem Orden auf die Welt kommt, muss man brillante Taten vollbringen und um sie loszuwerden und im Idealfall absolut keine mehr zu haben. Das ist in der Tat sehr im Sinne von Offenbach und reiht sich in die Werke wie z. B. Le Financier et le Savetier (1856) oder Les Brigands (1869) ein, die zeigen wie dünn die Grenze zwischen sozialen Schichten ist und dass Ehrlichkeit oder Seriosität nicht unbedingt dort zu finden sind, wo man sie erwartet.

Besonders arbeitsreich war für Offenbach der Herbst 1875, in dem in weniger als zwei Monaten vier Werke entstanden. Er besetzte das Théâtre des Variétés mit La Boulangère a des écus (1875), das Théâtre de la Gaité mit Le Voyage dans la Lune und das Théâtre des Bouffes-Parisienne mit La Créole (1875) und Tarte à la créme (1875) für insgesamt 10 Akte. Alles Produziert für ein Publikum, das groß angelegte sensationelle Shows besonders liebte! Le Voyage dans la Lune vereint alle Zutaten der Magie eines Märchens: Schillernde Dekorationen und besonders attraktiv wird auch die Kuppel des Pariser Observatoriums im ersten Akt nachgebildet, üppige Figuration, komische Ballette und sogar Vulkanausbrüche. Als Konkurrenz für den Elefanten, der im Théâtre la Porte-Saint-Martin für großes Aufsehen sorgte in Le Tour du Monde en 80 Jours, diente ein Dromedar als Reittier für Roi Cosmos, ausgeliehen vom Pariser Zoologischen Garten. Weniger als fünf Monate nach seiner Pariser Premiere wurde Le Voyage dans la Lune von diversen Szenen in den USA und in Deutschland mit viel Erfolg  übernommen…

LE VOYAGE DANS LE LUNE - 12. Juli 2023 -  Greek National Opera Athen

Die rastlose Suche nach einem bewohnbaren Planeten…

In einer Zeit, in der viele Milliardäre egoistisch von einer phantastischen Raumfahrt träumen und in der immer mehr und mehr Verschwörungs-Theoretiker fest daran überzeugt  sind, dass die Erde flach ist. Oder auch dass der Mensch noch nie den Mond betreten hat! Ist es äußerst wichtig gerade in dieser Zeit, einen der größten Erfolge von Offenbach am Ende seiner so erfolgreichen Karriere in den 1870er Jahren aus den verstaubten Archiven an das Licht zu fördern: Le Voyage dans la Lune. Frei inspiriert nach den Romanen von Verne, der sich bereits mit gelehrter und großer intensiver Vorstellungskraft für unseren berühmten Satelliten interessierte, erzählt dieses Märchen die fantastischen Abenteuer des Prince Caprice, der nach einer ausgedehnten Reise durch die weite Welt begierig nach weiteren unbekannten Planeten sucht. So strebt er jetzt eine viel weiter entfernte Reise an und somit befindet er sich in einer riesigen und fauchenden Kanone, die mit einem Schuss „bumms… puff… knall…“ auf dem Mond mit ihm,  seinem Vater, Roi V’lan VI. und seinem Freund, dem Gelehrten Microscope unter den sehr stark mondsüchtigen Sélénites landet! Ein Apfel, die Liebe und ein Vulkan sorgen dann für das richtige Maß an Unordnung, Humor und Abenteuern, um am Ende eine sehr geschmackvolle und aber auch äußerst sarkastisch-bitterböse Show anzubieten.

Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Matéo Vincent-Denoble (Microscope), Franck Leguerinel (Le Roi V'lan), Arthur Roussel (Le Prince Caprice) und Ludmilla Bouakkaz (La Princesse Fantasia © Stefan Brion
Greek National Opera, Athen / Le Voyage dans la Lune hier Szenenphoto mit Matéo Vincent-Denoble (Microscope), Franck Leguerinel (Le Roi V'lan), Arthur Roussel (Le Prince Caprice), Ludmilla Bouakkaz (La Princesse Fantasia) © Stefan Brion

Doch eine solche Reise ist jedoch nicht jedermanns Sache: Ursprünglich dauerte die Oper fast sechs Stunden, beteiligt waren mehrere hunderte von Sängern und Tänzern, kostümiert mit allerhand glitzernden Kostüme und von verschiedenen reichen und kostspielenden Bühnenbildern: Natürlich auch mit äußerst vielen sensationellen Effekten ab libitum. Aber die Opéra Comique Paris hatte eine gute Nase um das aktuelle Thema unter vielen herauszuriechen, so war sie beschlossen eine Kurzfassung zu produzieren, die den jungen Sprösslingen des Kinder- und Jugendchors und der Akademie für junge Sänger angepasst war. So wurde die französische Dirigentin Alexandra Cravero mit der musikalischen Einrichtung betraut und gleichzeitig dirigierte sie auch das Musik-Ensembles Les Frivolitès Parisiennes für die geplanten Aufführungen. Der bekannte französische Regisseur Laurent Pelly, der unweigerlich seit vielen Jahren den „Kölner Franzosen“ gewissermaßen unter der Haut hat, führte die Regie. Die französische Dramaturgin Agathe Mélinand besorgte die Auswahl der musikalischen Nummern und war verantwortlich für die nötigen Streichungen und auch das Neuschreiben einiger Dialoge. Nach einem ersten Start hinter verschlossenen Türen vor den Kameras von France 5 zum Zeitpunkt der dritten Cofidis 5-Welle entflog endlich Le Voyage dans la Lune „Junior“ 2021 in rund zwei Stunden in einem übervollen Saal Favart (Opéra Comique) vor der begeisterten Öffentlichkeit  davon…

Seien wir ehrlich: Wenn die Produktion auch nur langsam in Fahrt ging, so gilt das gleiche auch für die fertige gezeigte Show, deren 1. Akt wohl nicht der erfolgreichste ist! Der Kritik an unserer hyper-vernetzten und stark konsumierenden Welt aus nicht recycelten Kunststoffen mangelt es leider an Subtilität und die zahlreichen und sehr lauten Bewegungen der Kinder auf der Bühne gehören wohl nicht zu den inspiriertesten Ideen von Pelly. Aber am Ende des 1. Akts, im Moment des Besteigens der Kanone, ist alles wie ein einem Traum verändert: Der Zünder, die Notlandung auf dem Mond, die Paraden, die phantasievollen Kostüme und die drollige Mimik der Mondbewohner sind absolut entzückend und somit genießen wir das  Werk voll bis zur letzten Note aus ohne nur einmal auf die Uhr zu sehen. Vielleicht ein paar zu offene Kürzungen und  auch ein paar vermeidbare Sprachlücken verraten sicherlich die Arbeit einer Adaption, aber der Show mangelt es weder an sinnvollem intelligentem Geist noch an prallem Zusammenhalt.

Wir müssen die enorme Arbeit würdigen, die von den Kindern und noch sehr jungen Menschen der beiden Chöre geleistet wurde: Der Kinder- und Jugendchor der Opéra Comique Paris unter der Leitung und Einstudierung der französischen Chorleiterin Sarah Koné und der Kinder- und Jugendchor der Greek National Opera Athen unter der Leitung und Einstudierung der griechischen Chorleiterin Konstantina Pitsiakou. Die sehr oft sowohl vom Gesanglichen als auch vom Szenischen eingesetzt wurden und sich bewundernswert behaupteten! Brava! Bravo! Eine wirklich außergewöhnliche und professionelle geniale Leistung! Die jungen Sänger lösen gekonnt die von Offenbach gesäten sprachlichen und intonatorischen Schwierigkeiten und bieten phantastische Bewegungs- und Inkarnations-Qualitäten: Die eines professionellen Chors würdig sind!

Einige Stimmen stechen besonders hervor, insbesondere die französische Sopranistin Ludmilla Bouakkaz, die brillante Princesse Fantasia, die zu ihrem grossen stimmlichen Potenzial mit glasklaren Koloratur-Höhen auch noch ein unverkennbares Talent als Komödien hinzufügt. Der junge französische Tenor Arthur Roussel ist an diesem griechischen Premieren-Abend in der Greek National Opera Athen etwas zögerlich und hat vielleicht auch etwas Lampenfieber, denn seine Höhen sind unzureichend und seine Stimme überfliegt nicht die Rampe und verblasst  unweigerlich in diesem grossen Opernhaus. Aber seine rührende Jugendlichkeit und seine ausgezeichnete natürliche und freche lausbubenhafte Schauspielkunst passt zu der Rolle des Prince Caprice, die normalerweise einer Mezzo-Sopranistin anvertraut wird. Der schon gewissermaßen als ein Veteran der Opernbühne angesehen werden kann, der französische Bass-Bariton Franck Leguérinel ist naturgemäß das einzige Nichtmitglied des Chors. Der erfahrene Sänger mit einer schon  ansehenden Karriere hinter sich interpretiert mit viel Geplänkel und Ur-Komik einen lächerlichen amüsanten Roi V’lan VI. und behält dabei stets die Eleganz seine jungen Partnern nicht zu sehr in den Schatten zu stellen.

Der junge französische Bariton Matéo Vincent-Denoble als Microscope überzeugt besonders mit seinem fast tollwütigen rasant-komischen Spiel der Wahrheit. Die kokette und amüsante Flamma wird von der französischen Mezzo-Sopranistin Violette Clapeyron mit viel musikalischer Raffinesse gesungen. Reine Popotte Cosmos zeigt in ihrer einzigen Bravour-Arie ein überschwellendes Temperament im Gesang und auch im Spiel: Interpretiert von der charmanten französischen Sopranistin Rachel Masclet. Der französische Tenor Enzo Bishop in der Rolle des Roi Cosmos und sein Landsmann der Bariton Mischa Calvez-Richter als Cactus sollten noch mehr Selbstvertrauen gewinnen.

Im Orchestergraben leitet der griechische Dirigent Elias Voudouris alle diese jungen Talente mit bewundernswerter Delikatesse und Einfühlungsvermögen. Er rettete immer wieder einige potenzielle gefährliche Passagen, indem er viel langsamer zeitsparend herangeht und auch die Worte deutlicher artikuliert, um das nötige musikalische Gleichgewicht zu erhalten: Immer hilfsbereit für die jungen Sänger ohne jegliche Bühnenerfahrung und diese auch sicher zu einem guten sicheren Ende zu leiten!

Das Orchestra of the Greek National Opera spielt in einer verkleinerten Formation und zeigt sich  musikalisch geschärft und inspiriert in einer Partitur, die auf der Orchester-Ebene jedoch nicht unbedingt sehr einfallsreich ist. Die Ouvertüre und auch der 1. Akt sollte jedoch lebhafter und kühner interpretiert sein: Es wurde zu schleppend und ohne jegliche Energie in einem zu schweren bodenstämmigen Walzer-Rhythmus gespielt!

Das Ende, die Explosion des Kraters nach dem kräftigen Biss in den Apfel verraten wir nicht! Aber wir raten jedem, sich unverzüglich auf die großartige Reise zu begeben.

Diese äußerst edukative Show über den katastrophalen Zustand unseres Planeten mit seinen unverantwortlichen zynischen Machthabern ist wohl eine letzte Warnung an die wohl egoistischste  Kreatur auf Erden: Der Mensch! Das Athener Opernhaus wackelte fast in seinen Fundamenten über diese enormen langen Beifallsstürme von Jung und Alt! Es war ein riesengroßer Erfolg für alle jungen Interpreten auf der Bühne, aber auch eine intelligente Ermahnung für alle!

Das ist eine pädagogische Ko-Produktion zwischen der Opéra Comique Paris, der Volksoper Wien und der Opéra de Nantes / Angers.  (PMP/17.07.2023)