Musikfest Aix-en-Provence :
Keine Angst vor starken Frauen

Von Anja-Rosa Thöming
Lesezeit: 4 Min.
Scheuer Frauenheld: Birane Ba als Macheath mit Marie Oppert als Polly Peachum
Hallo, ich bringe euch ein Lied bei: Die Dreigroschenoper auf Französisch und die Uraufführung von „The Faggots and their Friends between Revolutions“ von Philip Venables beim Musikfestival in Aix-en-Provence.

Der Vollmond über dem südfranzösischen Aix prangt in der Premierennacht hell und klar. Anders der Mond über dem düsteren Londoner Stadtteil Soho in der „Dreigroschenoper“, dort gleicht er einem „dünnen, abgegriffenen Penny“. Mit der französischsprachigen „Opéra de quat’sous“ von Kurt Weill, Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann (Übersetzung Alexandre Pateau) eröffnete das Festival seine fünfundsiebzigste Ausgabe.

In verschiedenen Ansichten hängt der Mond rechts oben im Bühnenbild von Magda Willi. Zusätzlich sehen wir auf zweidimensionalen geometrischen Formen, die sich reizvoll überschneiden, wechselnde technische Zeichnungen, Fotos, Reklame, Ausschnitte aus Wochenschauen der Zwanzigerjahre (die „Dreigroschenoper“ wurde 1928 uraufgeführt). Farblich bestimmend in diesem sehr schön gestalteten Bühnenabschnitt sind ein warmes Weiß und ein kräftiges, fast royales Samtrot. Auf der anderen Seite laufen in zwei digitalroten Leuchtschriftbändern — eines waagerecht, eines diagonal nach unten — die Titel der einzelnen Balladen durch. Zusammen mit den ebenfalls roten Übertiteln wirkt die Bühne so ziemlich eingekästelt in Texte und dokumenta­rische Bildsequenzen.

Intelligent pointierter Chansongesang

Thomas Ostermeier legt die Inszenierung als Revueabend mit festen Mikrofonen am vorderen Bühnenrand an. Schon Kurt Weill hatte davon gesprochen, mit Schauspielern statt mit (Opern-)Sängern arbeiten zu wollen, und so ist folgerichtig, dass das Werk hier in Aix — ursprünglich ein Bestimmungsort für Musik und Operngesang — mit Darstellern des berühmten Pariser Theatertempels Comédie-Française gegeben wird.

Die Truppe wird angeführt von der sprühenden Véronique Vella als Mackie Messers Schwiegermutter Mrs Peachum. Die Art des sprachlich direkten Chansongesangs verbindet sie mit der Fähigkeit zur intelligenten Pointe und einer darstelle­rischen Präsenz, die ihresgleichen sucht. Eine gefährliche Frau! Ihre Vorstellung könnte als Vorbild für so manche verschwommene Darstellung studierter Opernsänger gelten.

Zwischen den Powerfrauen hat er es nicht leicht

Eine zweite, rücksichtslos intensive Frau tritt mit Marie Oppert als selbst­bewusster Polly Peachum auf. Die aus­gebildete Sängerin fühlt sich dem Erbe des Komponisten Weill und seiner Frau und Interpretin Lotte Lenya verbunden. Singend sprengt sie die Grenzen der Revue und gestaltet ihr Liebesbekenntnis zu „Mac“ im ganzen Bühnenraum sängerisch wie gestisch als große, dramatische „Arie“.

Zwischen diesen Powerfrauen hat es Birane Ba als Macheath nicht leicht. Als Person of Color mit elegantem Habitus ist ihm das Interesse gewiss, auch profitiert er von seinem prägnanten Kostüm (Florence von Gerkan). Doch wirkt er in der Rolle als Frauenheld seltsam scheu — im Laufe des Stückes tauchen immer mehr Frauen auf, die „Mac“ lieben —, und zudem liegt sein Charisma nicht in seiner Stimme. Wird er im grandiosen Duett „Soldaten wohnen auf den Kanonen“ noch von dem virtuosen Benjamin Lavernhe (Sheriff Brown) mitgerissen, steht er am Schluss auf dem Galgengerüst auch stimmlich ziemlich allein da.

Mackies Gauner-Gang, auch sie luxuriös besetzt mit Mitgliedern der Comédie-Française, spielt sich nicht recht frei; man ahnt das Potential der Typen, doch die Regie meint immer wieder, mit Varieté-Gags wie Gesicht-in-Sahnetorte nachhelfen zu sollen. Da kann auch der musikalische Leiter Maxime Pascal mit dem Ensemble Le Balcon nicht helfen: Die Band, womöglich etwas zu klein für die Akustik des Freilichttheaters, hat gute Momente, etwa in der Ballade der Seeräuber-Jenny mit ­E-Bass, verstärktem Piano und Triangel, doch gerade das prägnante Vorspiel wirkt viel zu zahm, zu wenig aggressiv — instrumentale Schärfe hat man hier, gerade in historisch informierten Musikprodukti­onen, schon anders gehört.

Das Publikum ist geradezu verzaubert

Musikalisch-theatralisch ganz mit sich im Reinen erschien die Premiere auf der Studiobühne des Pavillon Noir, „The Faggots and their Friends between Revolutions“. Das neue Stück, eine „barocke Fantasie“ von Philip Venables (Musik) und Ted Huffman (Text und Regie), hatte gerade Welturaufführung beim Manchester International Festival und wird nach den Aufführungen in Aix bei den Festspielen in Bregenz erwartet. Mit der Produktion in der Gegenwarts-Reihe „Incises“ vollzieht sich eine bemerkenswerte Wandlung im ansonsten gediegenen Konzertbetrieb: Das Festival wird divers. Venables und Huffman vertonen und inszenieren, nach einem amerikanischen Kultbuch von 1977, die Sehnsucht nach einem Miteinander voller Respekt für den anderen. Was ursprünglich aus der „queeren“ Community hervorging, kann man, gerade vor dem Hintergrund der Statistiken über häusliche Gewalt, als Friedensappell verstehen. Und wie das Wort „queer“ wird auch „faggots“ (Schwuchteln) umgedeutet in eine positive Selbstbezeichnung: „Nous le disons avec amour“ (Huffman).

Alle fünfzehn Darstellerinnen und Darsteller, Musikerinnen und Musiker, binäre und nicht binäre, blicken mit einer ungewohnten Offenheit ins Publikum, jedoch nicht aufgesetzt, sondern um Kontakt herzustellen. Und das Publikum spielt mit, reagiert, ist geradezu verzaubert.

Die fünfzehn stehen, laufen oder liegen immerzu auf der nahezu quadratischen Bühne, Requisiten und Instrumente am Rand verteilt (Bühnenbild Rosie Elnile). Sie singen, spielen Gambe, Cembalo, Barockgeige, Laute, Saxophon, Akkordeon, auch eine Harfenspezialistin ist dabei. Dazu wird mal solistisch, mal chorisch gesungen in einem wirklichen Miteinander. Die musikalische Leiterin Yshani Perinpanayagam mischt sich unter die bunte Truppe. Die musikalischen Formen reichen von barocker Arie über Folkmusik bis zu brasilianischen Rhythmen. Die Choreographien (Theo Clinkard) sind unprätentiös und energievoll, vor allem wenn Yandass virtuos tanzt. Nach Art einer Dragqueen im pinkfarbenen geschlitzten Kleid studiert Kit Green mit dem Publikum einen Song ein: „Hi, I’ll teach you a song, is that ok?“