Festival d'Aix :
Hemdknopf des Glücks

Von Anja-Rosa Thöming
Lesezeit: 4 Min.
Marianne Crebassa als trauernde Mutter voller Hoffnung
Die Sopranistin Marianne Crebassa brilliert in der Uraufführung von George Benjamins neuer Oper „Picture a day like this“ in Aix-en-Provence.

George Benjamin, der Komponist und Dirigent der Uraufführung von „Picture a day like this“, legt Wert darauf, vor Beginn einer neuen Arbeit für das Musiktheater die Sängerinnen und Sänger und deren Stimmen gut zu kennen, ihre Vorlieben, ihre vokale Bandbreite und auch das, was sie vermeiden möchten. Darin gleicht er einem Opernkomponisten des achtzehnten Jahrhunderts wie auch darin, das Stück mit ihnen als Dirigent zur Aufführung zu bringen. In diesem frühzeitigen Mitein­anderumgehen kann man einen Teil seines Erfolgsgeheimnisses vermuten. Immerhin ist er in diesem Jahr mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis ausgezeichnet worden. Benjamins Opernmusik mit ihrem subtilen, feingliedrigen Orchesterpart ist auf die menschliche Stimme als Ausdrucksträgerin, auch als Textinterpretin ausgerichtet, das macht sie leicht fassbar.

„Picture a day like this“ ist eine Geschichte nach Art einer alten Legende. Sie handelt von einer namenlosen jungen Frau, die ihr kleines Kind, es konnte gerade sprechen, verloren hat. Ihr Kummer über den Tod des kleinen Sohnes ist so groß, dass eine übergeordnete Macht ihr ein Wunder verspricht, wenn sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden einen glücklichen Menschen findet und einen Knopf seines Hemdes bekommen kann. Wie in einem Märchen zieht sie aus und trifft auf die verschiedenartigsten, scheinbar glücklichen Menschen, ein Liebespaar, einen Kunstsammler, eine weltweit gefragte Komponistin.

Polyamourös und frei

Und wie in einem Märchen trägt sie zuerst vertrauensvoll ihre Bitte vor und stößt überall auf Grenzen und Unglück: Der Kunstsammler ist reich, aber schrecklich allein; das Leben der jetsetberauschten Komponistin stellt sich als innerlich leer heraus; die Liebenden entzweien sich in Gegenwart der Frau darüber, wie viele Liebhaber welchen Geschlechts, männlich, weiblich, divers, der Mann parallel haben dürfe: „I sleep with boys and girls and people in between / like Amandine — so pure and polyamorous and free!“

Der Theaterautor Martin Crimp sieht seine Aufgabe ausdrücklich darin, den Komponisten zu inspirieren. Er hat in seiner vierten Zusammenarbeit mit George Benjamin auf Erzähltraditionen unterschiedlicher nah- und fernöstlicher Kulturen zurückgegriffen und sie in eine klare Szenenstruktur aus sieben Szenen mit konkreter, heutiger Sprache verwandelt. Und es sind gewissermaßen die alten Themen der Menschheit, die die musikalische Sprache in Fluss bringen: Zuallererst die Trauer der verwaisten Mutter; Benjamin schöpft aus einer ganzen Palette an berührenden Klängen für die „atmosphere of grief“ mit dem Einsatz des Fagotts, der sanften Klarinetten, der herben Bratschen, der Hörner.

Als zweites Movens erscheint die Hoffnung auf das Wunder, gemischt mit Rastlosigkeit, Panik, Resignation — sie ist musikalisch gespiegelt in hastigen kurzen Motiven gestopfter Trompeten, eines vielfältigen Schlagwerks, der Streicherpizzicati. Das Mahler Chamber Orchestra folgt George Benjamin mit Ruhe und Fokussierung.

Marianne Crebassa zeigt Größe

Die ganze Komplexität des 75-Minuten-Werks ist zwar beim ersten Hören neben den vielen Sinneseindrücken einer szenischen Uraufführung nicht zu erfassen, doch nimmt man dankbar die klare Strukturierung, durchaus in Anlehnung an traditionelle dramaturgische Formen, auf: Dialogische Berührungen steigern sich zum gemeinsamen Gesang, in ihm können Menschen sich finden oder aneinander vorbeireden. Der Höhepunkt des Mutter-Schmerzes und der Vergeblichkeit der Suche findet Ausdruck in einer veritablen Arie mit einem ausdrucksvollen Dacapo: „Cold earth — dead stems / of flowers come to life again — / why not my son?“

Marianne Crebassa gestaltet die anspruchsvolle Rolle der trauernden und doch immer hoffenden Frau mit beeindruckender Größe. Die Mezzosopranistin ist sicherlich eine der besten Sängerinnen ihrer Generation, für einen Komponisten wie Benjamin ein Geschenk. Alles an der kultivierten Stimme wirkt reich und schlank zugleich, quasi bruchlos übergehend von einer vollen, nur leicht herben Tiefe über eine warme Mittellage hin zur leicht ansprechenden, gesunden Höhe. Das Regie-Tandem Daniel Jeanneteau und Marie-Christine Soma gibt Marianne Crebassas natürlichem Temperament gleichsam einen Rahmen mit einer kühlen, dunklen Bühne, unterbrochen von einem helleren Band in der Mitte und wenigen Accessoires, die lautlos herein- und hinausfahren. Sie trägt ein unprätentiöses Sommerkleid und für ihre schwere Aufgabe einen schützenden Trenchcoat (Kostüme: Marie La Rocca), in dessen Tasche sie die Liste der vermeintlich glücklichen Menschen stopft.

An Crebassas Seite sind großartige Künstler versammelt: die Sopranistin Beate Mordal, der Countertenor Cameron Shahbazi und, ganz groß, der Bariton John Brancy mit seiner intelligent geführten Stimme, die mühelos bis hinauf in Althöhen trägt. Einzig Anna Prohaska als Zabelle findet nicht ganz in ihre Rolle, was möglicherweise stückimmanente Gründe hat. Die Sopranistin bewohnt die letzte Station auf der Glückssuche, einen herrlichen Paradiesgarten mit Gewürzen und blühenden Rosen. Der Video-Künstler Hicham Berrada zaubert eine eigentümliche Pflanzenwelt mit zuckenden Armen und Augen hinter eine Glaswand, was mehr an Retorte erinnert als an duftendes Grün, kurz, ein vergifteter Garten. Dass Zabelle ihre eigene Trauer hat und die Frau dennoch erlösen kann, ist zugegeben ein schweres Rätsel.

Es wird von einem anderen Regieteam anders gelöst werden, denn Benjamins neue Oper verdient noch viele Aufführungen.