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Opern-Kritik: Bayerische Staatsoper München – Hamlet

Meta-Musik, Oper global, Rainbow-Chic

(München, 26.6.2023) Neil Armfields avancierte Wander-Inszenierung von Brett Deans Shakespeare-Oper „Hamlet“ eröffnete die Münchner Festspiele prachtvoll, erlesen und schön. Der musikalische Hausherr Vladimir Jurowksi dirigierte.

vonRoland H. Dippel,

Der Vergleich dieser Premiere mit der Uraufführung von Aribert Reimanns nicht weniger ambitionierter Shakespeare-Vertonung „Lear“ bei den Münchner Opernfestspielen 1978 liegt nahe. Die Shakespeare-Oper von damals war eine Eigenproduktion mit einem überwiegend aus Mitteleuropa stammenden Ensemble um die „hauseigenen“ Stars Dietrich Fischer-Dieskau und Julia Varady. Der jüngste Shakespeare-Erfolg „Hamlet“ dagegen zog nach der Uraufführung in Glyndebourne 2017 schon über die internationalen Häuser in New York, Köln und Adelaide, bevor er am Ende von Serge Dornys zweiter Spielzeit in München aufschlug. Neben marginalen Buhs vor der Pause löste Brett Deans „Hamlet“ einen äußerst lautstarken, wenn auch recht kurzen Premieren-Jubel aus. Mehrere Staatsopernchor-Mitglieder hatten frei; auch weil der Kostümsatz der aus Glyndebourne übernommenen Produktion in der Einstudierung von Rustam Samedov, der das Werk bereits in Köln betreut hatte, nicht für alle reichte. Die zweite Münchner Festspiel-Premiere – Händels „Semele“ – ist eine Koproduktion mit der Met. Daran merkt man den Paradigmenwechsel eines der weltweit ersten Opernhäuser: Ende des 20. Jahrhunderts zeigte man dem internationalen Publikum gern die Homemade-Bestauslese nebst Gaststars zu Glanzpunkten. Heute setzt man auf‘s Programmmenü, was interessierte Opernreisende schon kennen. Für die vier Folgevorstellungen gab es am Vormittag nach der Premiere noch reichlich Karten.

Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München
Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München

Meta-Musikalisch

Gewiss ein großartiges und auch sportliches Musik-Ereignis: GMD Vladimir Jurowski freute sich auf die Wiederbegegnung mit dem Uraufführungsteam, für das er 2017 im einwöchigen Coaching die Ausführungsmöglichkeiten für die Visionen des australischen Komponisten (und als Ex-Bratscher der Berliner Philharmoniker in Europa bestens vernetzten) Brett Dean austestete. Für das Haus am Max-Joseph-Platz geriet das zum Superflow aus elektronischem Sampeln, einem orchestralen Blow-Up und einem im ersten Teil notorischen Übertönen der Singstimmen. In den Seitenlogen waren je eine Trompete, eine Klarinette und Schlagwerk für „Stereo-Effekte“ positioniert. Ungewohnte Klänge wurden durch das Reiben von Steinen, vokale Effekte durch beim Einatmen erzeugte Töne generiert.

Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München
Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München

Blendende Überwältigungen

Deans „Hamlet“ steht am Beginn einer neuen Epoche des Musiktheaters, die sich seit einigen Jahren in Werken wie Beat Furrers „Violetter Schnee“ und Hans Abrahamsens „The Snow Queen“ manifestiert. Mit einem immensen Besetzungs- und Hilfsmittelapparat generieren Komponierende einen nur für das jeweilige Werk gültigen Kolorit-Kosmos, in dem sie mit Instrumenten und Technik, auch Stimmen ein bislang unerhörtes Klanggeschehen visionieren. Diese Effekte – bei Dean vernehmlich grelle Dynamik-Zonen und schmeichelnde Singstimmen-Behandlung – erweisen sich als blendende Überwältigungen, die kleineren Häusern aufgrund fehlender unverzichtbarer Mittel vorenthalten bleiben müssen.

Ein die Vokalsätze irrlichternd umschlingendes Semi Chorus (rheinstimmen ensemble) sitzt bei „Hamlet“ im Orchestergraben, ergänzt die dramatischen Solopartien und den Chor fescher Gesellschaftsspitzen: Alles chic im Staate Dänemark! Alice Babidge lieferte, was zur textilen Grundausstattung nachhaltig orientierter Opernhäuser gehören muss. Diese Roben machen noch immer Eindruck, wenn im zweiten Teil Dean zur hochdramatischen Zuspitzung nicht immer auf seinem genialischen Kolorit-Teppich bleibt und die Figuren mit bekannten Topoi heutiger Kompositionspraxis ausstattet: Da gibt es wieder hohes Streicherzirpen beim Gedankenwirbeln und exaltierte Intervallsprünge zu Mordabsichten. Ralph Myers drehte zu den düsteren Schattenszenen mit Friedhof und Komödianten die weißen Kassettenwände einfach um und zeigte Theatermaschinerie.

Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München
Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München

„Hamlet“-Hotspot 2022/23

Die gesamte Spielzeit 2022/23 ist so etwas wie ein überregionaler „Hamlet“-Zyklus deutscher Musiktheater: Angefangen beim „Hamlet“-Tripel aus Schauspiel, Tanz und Fredrik Schwenks Bühnenfassung von Gasparinis „Amleto“-Oper am Theater für Niedersachsen in Hildesheim bis zur Uraufführung von Sarah Nemtsovs „Ophelia“ am Staatstheater Saarbrücken, in der die die Komponistin das repressive Frauenbild Shakespeares korrigiert und Ophelia mit einem sympathischen Mann belohnt. Nicht zu vergessen die sensationell gelungene Produktion von Ambroise Thomas‘ Grand opéra „Hamlet“ an der Komischen Oper Berlin. Am Ende dieser Reihe erweist sich Matthew Jocelyn als opernaffiner Libretto-Könner, wenn er gleich zu Beginn mit „To be or not to be“ auf den essenziellen „Hamlet-Punkt“ kommt: Ophelia wird durch Textstellen anderer Figuren aus dem Zustand der holden Naiven ins Stadium einer lobenswert Selbstbewussten befördert, die weiß, was ihr blüht.

Das Fach des Bravour-Soprans dürfen ihre Interpretinnen – in Glyndebourne Barbara Hannigan, in München die nicht minder atemberaubende Caroline Wettergreen – in die Gegenwart überführen. Im Geist Shakespeares ergänzen sich Jocelyns Text und Deans Partitur ideal: Lässig geraten die Opportunisten Rosencrantz & Guildenstern als Duo zweier Countertenöre für schlagerartige Zitat-Einlagen (Patrick Terry und Christopher Lowrey). Viel britisch-amerikanische Vokal-Prominenz kommt an die Isar: Rod Gilfry als Usurpator Claudius, der vom Publikum spürbar geliebte Bayreuther Ex-Wotan John Tomlinson als Geist, Totengräber und Spieler, der aktuell als Barock-Tenor, Charaktertenor und Heldentenor drei Fächer abdeckende Charles Workman in der aufgewerteten Partie des Polonius. Dazu eine Grande Dame der französischen Oper mit Wagner-Kompetenz: Sophie Koch macht die Königin Gertrud mindestens so wichtig wie Ophelia und stirbt ihren Gifttod nach makellos fokussierten Spitzentönen. Mit ihrem Partiencharakter meint es die neue „Hamlet“-Oper gut, weil Gertrude nichts vom Mord am ersten durch ihren zweiten Gatten zu wissen braucht. Toll der hier ebenfalls wichtige Laertes in der Verkörperung durch den charismatischen Sean Panikkar.

Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München
Szenenbild aus „Hamlet“ an der Bayerischen Staatsoper München

Zwei Degen für zwei Tenöre

Ein Shakespeare-Kenner wie der australische Regisseur Neil Armfield muss allerdings von der in „Hamlet“ universellen Theater-Metapher wissen. Also schlurft der nerdige und weniger zaudernde als doch sehr agile Prinz von Dänemark mit Vollbart, hängendem T-Shirt und in Schwarz durch‘s sonst äußerst fashionable Geschehen. Dean propagiert das Comeback den von Komponierenden heute wenig geschätzten Fachs des lyrischen Tenors. Allan Clayton in der Titelpartie braucht die musikalische Mikroverdichtung nicht. Seine Stimme strahlt wie die Panikkars. Beider lange und stichfeste Fechtszene gelingt nicht nur opern-, sondern sogar filmreif.

Alles also prachtvoll, erlesen und sogar schön bei der Festspieleröffnung, während der die mit Rainbow-Colours umschlungenen korinthischen Säulen des Nationaltheaters noch immer der allergrößten CSD-Parade Münchens am vergangenen Wochenende nachträumen. Und nicht zuletzt ist faszinierend, wie Dean, Jocelyn und die diamanten-stählerne Caroline Wettergreen Shakespeares den für heute so wunden Ophelia-Punkt zurechtrücken. Denn Ophelia stirbt nicht vernagelt, sondern erzürnt. An solchen Fundamentalerkenntnissen erweist sich der richtige Zeitgeist.

Bayerische Staatsoper München
Brett Dean: Hamlet

Vladimir Jurowski (Leitung), Neil Armfield (Regie), Ralph Myers (Bühne), Alice Babidge (Kostüme), Jon Clark (Licht), Rustam Samedov (Chor), Denni Sayers (Choreographie), Nicholas Hall (Fechtszene), Laura Schmidt (Dramaturgie), Allan Clayton, Caroline Wettergreen, Rod Gilfry, Sophie Koch, Charles Workman, Jacques Imbrailo, John Tomlinson, Sean Panikkar, Patrick Terry, Christopher Lowrey, Andrew Hamilton, Liam Bonthrone, Joel Williams, James Crabb, Ursula Göller, Julia Hagenmüller, Phillipa Thomas, Eva MartiIlja Aksionov, Gabriel Sin, William Drakett, George Clark, Bayerischer Staatsopernchor, Bayerisches Staatsorchester

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