Daniel Nicholson, Frédéric Krauke und Eva Hüster in „Bär*in“

Alles in allem anregend

Arne Gieshoff: Bär*in

Theater:Deutsche Oper Berlin, Premiere:21.06.2023 (UA)Regie:Franziska AngererMusikalische Leitung:David Wishart

In der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin ist ein Stück Musiktheater zu sehen und zu hören, in dem ein persönliches Trauma und seine Aufarbeitung weiter verarbeitet werden. „Bär*in“ ist in der Regie von Franziska Angerer zugleich eine gut gemachte und eine entfesselte Performance.

Die Verbindung „von allem mit allem“, welche inzwischen als Schlagwort ins Trend- und Konsumverhalten Eingang findet, wurde für die französische Anthropologin Nastassja Martin seit dem 25. August 2015 zur physisch-psychischen Erschütterung – zu Leid, Läuterung, Bewusstseinserweiterung und seelischer Transformation. Während ihres Forschungsaufenthalts bei den Ewenen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka unternahm Nastassja Martin aus irrationalen Impulsen eine Wanderung auf abgelegene Höhenzüge. Dort geriet sie in Berührung mit einem Braunbären: Er beißt ihr einen Teil des Kiefers ab, sie schlägt ihm mit einer Hacke eine tiefe Wunde: „… ich sage mir ich sterbe, aber ich sterbe nicht, ich bin bei vollem Bewusstsein.“ Ein Wunder: Nastassja Martin überlebt durch ewenische Heilkenntnisse. Aber auch durch die Kraft des eigenen Willens und die Bereitschaft, die durch den Biss erworbenen Bärenanteile zu akzeptieren – als Verschmelzung, spirituelle Wiedergeburt, seinsmäßige Umpolung. Alles ist für sie anders nach den Bärenbissen, der Vorhang zu einer erweiterten Wahrnehmungsdimension geöffnet: „Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.“

Ereignis – Roman – Musiktheater

Ein ordentliches Maß Geistes- und Körperarbeit steckt in diesem jüngsten Tischlerei-Musiktheater, welche das Volumen der Halle, den globalen Raum von Berlin bis Kamtschatka in Nordostasien und die Zeit seit dem Nationalsozialismus zu sprengen scheint. Aber am Ende hat man das Gefühl, dass nichts überflüssig war bei diesem Brückenschlag von Nastassja Martins autobiografischer Grenzausschreitung in ihrem Roman „An das Wilde glauben“ zum imponierenden Körperritual von Frédéric Krauke und den kraftvollen Klagesongs der „Bärenband“ mit Maximilian Hirning, Tim Sarhan und Franziska Ameli. Sogar der mythische Aufputz erhielt so etwas wie Sinnhaftigkeit, weil die Regisseurin Franziska Angerer ihre zwei Themen nicht nur dekorierte, sondern an den gedanklichen Wurzeln packte und Arne Gieshoffs Komposition sich gut überlegt mit Andeutungen begnügt.

In den Text steigt die Sprech- und Sängerdarstellerin Eva Hüster anfangs etwas neutral ein, gewinnt später gerade deshalb an Überzeugungsenergie: Denn das wahrhaft Drastische an Nastassja Martins Textdokument ist nicht die Brutalität und die selbsttherapeutische Bewältigungsarbeit der Autorin. Es ist auch nicht die aus wissenschaftlichen wie der Extremerfahrung gespeiste Akzeptanz schamanischer Wahrnehmung, sondern die mit sachlicher Beweisführung legitimierte Wahrheit des Animismus: Das Axiom von der Beseeltheit und Bedingtheit aller Wesen und Dinge.

Sinnfällige Zerlegung

Dieses sehr schwere und schwierige Gedankengut gewinnt durch die spirituelle Erleichterung Nastassja Martins noch tieferen Sinn. Diesen bürdeten sich Franziska Angerer und die Ausstatterin Valentina Pino Rayes auf und zerlegten ihn mit durchschaubaren, dabei sehr sinnfälligen Mitteln. Sie unterteilen die riesige Spielfläche der Tischlerei in vier rechteckige Flächen mit klaren Weg- und Wandergrenzen für die Sphären der Emenen, der drei Berliner Band-Bären, das sechsköpfige Instrumentalensemble sowie einen Ritualraum mit Fleischerhaken und Plastikverpackung für den entblößten Performance-Künstler und Sündenbock. Die Haltung der Gesangspartien (die Mezzosopranistin Maire Therese Carmack und der Bariton Daniel Nicholson) ist fluid wie der dekorative Materialgebrauch und die einleuchtende Weigerung der Dramaturgin Carolin Müller-Dohle, den Erläuterungskreis mit lückenloser Deutlichkeit auszuschreiten. Die sprachgewandte Trekerin Eva Hüster für die Autorin Nastassja Martin ist an eine Lautsprecher-Box angedockt, die sich in schlichten Ariosi und Text-Fragmenten artikulierenden Sänger hängen an mit Fellbüscheln übersäten Möbeln und Requisiten.

Das alles hätte irgendwie in einer ästhetisierten Attitüde für ein jung-hippes Nischenpublikum steckenbleiben können. Dass sich die 80 Minuten dann über die Addition eines Songblocks zum Berliner Bärensterben mit paralleler Trauma-Bewältigung über einen durchschnittlichen Betroffenheitspegel erheben können, ist auch der physischen Passion des Performance-Artisten Frédéric Krauke zuzuschreiben. Mit ihm erfand Angerer eine Opfernfigur parallel zu den Körpererfahrungen in Martins Text: Niedriger Wasserspiegel, angedeutete Waschung, Atmung via Schnorchel und wehrloses, da verschnürtes Aufgehängtsein. Das gerät zu einer virtuosen Körperausstellung und -entäußerung, einem animistischen Initiationsritual und lustvoll abstoßender Anstrengung für das Publikum.

Die Band tritt an mit Ganzkörper-Fellkostüm und Bärenköpfen. Als 1939 der Bär zum Berliner Wappentier wurde, setzte man auch eine vierköpfige Bärengruppe in den Zwinger am Köllnischen Park, deren letzte Nachfahrin Schnute 2015 dort ziemlich einsam starb und dafür mit allumfassender Volkstrauer verabschiedet wurde. Arne Gieshoffs Musik – mit hoher Szenenaffinität von David Wishart koordiniert – liegt nichts daran, Bärensongs und Nastassja Martins Läuterungsdrama in ein Musikdrama zu überhöhen. Höchstwahrscheinlich wären Gieshoffs Ton-Fragmente und koloristische Malereien an einem mehr griffigen, nicht auf spirituell und essenziell Grenzwertiges zielenden Plot zerschellt. Schwer zu benennen: Einiges an diesem ungewöhnlichen Abend wirkt sportiv, einiges artifiziell. Trotzdem lockt der Titel „Bär*in“ – sofern nur mit der Kunst des normativen Genderns betrachtet – auf eine falsche Fährte. Der Naturbezug im unnatürlichen Bühnenraum bringt die Auseinandersetzung mit Animismus nicht durch ein hartes Konzeptgebäude in Fluss, sondern durch Nachdenken. Nicht leicht zu sagen, wofür sich das laut jubelnde Premierenpublikum mehr begeisterte – für die entfesselten performativen Mittel oder die sehr subtile Bestätigung, dass alles mit allem verbunden ist.