Giorgio Battistelli (*1953) hat für seine jüngste Oper Pier Paolo Pasolinis (1922-1975) „Teorema“ als Vorlage benutzt: den Film von 1968 und das Buch. Ein junger Mann verführt als Gast mit seinem erotischen Charisma in einem großbourgeoisen Haushalt nacheinander Haushälterin, Sohn, Tochter, Mutter und dann auch noch den Vater. Auf seine Frage, wer der Besucher sei, habe ihm, so der Komponist im Programmheft, Pasolini geantwortet: „Denke ihn Dir als einen Engel, der vom Himmel gekommen ist. Einen Engel der Vernichtung.“ Wenn der metaphorisch der Auslöser für den Anfang vom Ende einer bourgeoisen Werteordnung ist, dann wird der eskalierende Zusammenbruch aller einzelnen Existenzen, der Familie und damit der Gesellschaft nach der Abreise des Fremden zur logischen Konsequenz.

Das britisch-irische Theaterkollektiv „Dead Centre“ (Ben Kidd und Bush Moukarzel) zeigt das als Laborversuch. Wie auf dem Display werden relevanten Daten für jede Szene auf einen Zwischenvorhang projiziert. Wissenschaftler wuseln mit der entsprechenden Ausrüstung und in weißen Schutzanzügen vor den Zimmern herum, die sich jeweils wie in einem Zoom öffnen und wieder schließen. Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Terrasse usw. tauchen mal einzeln auf, mal eins neben dem anderen, dann im zweiten Teil alle Zimmer auf einmal. Da ist der geheimnisvolle Besucher wieder verschwunden und alle sind auf sich selbst zurückgeworfen.

Jetzt spielen die im ersten Teil von Schauspielern gedoubelten Akteure auch. Mit ihren Parts zwischen Sprechgesang und Deklamieren berichten sie stets in der dritten Person von sich und ihrem Tun. Der Weg in den Abgrund ist flankiert von immer surrealeren Bildern. Hausmädchen Emilia (Monica Bacelli) etwa entschwebt wie eine Heilige gen Himmel. Mutter Lucia (Ángeles Blancas Gulin) stürzt sich in wilde Sexabenteuer. Pietro (Andrei Danilov) entdeckt den Aktionskünstler in sich, seine Schwester Odetta (Meechot Marrero) hat einen psychischen Knacks. Als Höhepunkt zieht schließlich Vater Paolo (Davide Damiani) nackt in die Wüste und entlässt uns mit einem Urschrei des Alleinseins. Nur für den Gast reichen Gestalt und Stimme von Nikolay Borchev. Allesamt sind erstklassig!

Daniel Cohen und das Orchester der Deutschen Oper Berlin zelebrieren diese über weite Strecken sinnliche, langsam atmende Musik mit Augenmaß und halten die atmosphärische Spannung dieses pulsenden Raunens, das sich mit handwerklicher Perfektion von vielen Quellen inspirieren lässt, langsam aufbaut und auch wieder abflaut.

Ob man nun einem Laborversuch oder der Geschichte einer großen Verführung zu sich selbst, einer Verunsicherung oder Apokalypse im Kleinen, eine Selbstbefreiung oder Selbstvernichtung beigewohnt hat, bleibt offen. Antworten sind dem Publikum überlassen – und das ist gut so. Der Beifall ist einhellig.

Roberto Becker

„Il Teorema di Pasolini“ (1992/2023) // Musiktheater von Giorgio Battistelli

Infos und Termine auf der Website der Deutschen Oper Berlin