Messiaen in Stuttgart :
Der heilige Winnetou, den Vögeln predigend

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Der Heilige Franziskus (Michael Mayes) mit Schwester Haubenlerche und Bruder Pirol.
Das Unbegreifliche – hier wird's gestreichelt: Die Staatsoper Stuttgart macht „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen zum achtstündigen Volksfest mit Heimatkundeunterricht.

Das Christentum ist schwer vermittelbar geworden. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg ging es letzte Woche um den Ukrainekrieg, den Klimawandel und die Asylpolitik, aber nicht so sehr um Gesetz und Gnade, Apokalypse und Hoffnung, Kreuz und Auferstehung. In der evangelischen Kirche Hessen-Nassau ist das Evangelium zeitweise schon durch Songtexte von Adel Tawil für die Predigt ersetzt worden, um jüngere Leute in die Kirche zu holen. Und auf der Opernbühne wird das Christentum entweder sozialdiakonisiert („Kümmere dich gefälligst um deine notleidenden Nächsten, statt im stillen Kämmerlein zu Gott zu beten“), psychopathologisiert („Ab in die Klapse mit der armen Irren, die Visionen hat“) oder aber – der neuste Schrei – klimasensibel ökologisiert.

Anna-Sophia Mahler nämlich lässt in ihrer Inszenierung von Olivier Messiaens Monumentaloper „Saint François d’As­sise“ (die schon bei deren Uraufführung vor gut vierzig Jahren eine Zumutung war, nicht allein wegen der viereinhalb Stunden reiner Musikdauer, sondern weil sie die Mehrheitskultur in deren irreligiösen Gefühlen verletzte), die Regisseurin also lässt den Heiligen Franz den toten Hasen von Joseph Beuys beerdigen und auf dem Grab Tomaten pflanzen. Am Anfang hatte Bruder Léon (glühend eindringlich mit seiner Angst in der Stimme: Danylo Matviienko) sehr niedlich mit den Vorderläufen des Hasen getrommelt. Und der Heilige Franz selbst spielte la­chend „Hoppe, hoppe, Reiter“ mit dem toten Hasen, als er von der wirklichen Freude sang, die im Verkanntsein durch die Welt, im Schlamm der Erniedrigung liege (so wie eben Christus seine Herrlichkeit in der Erniedrigung gezeigt ha­be). Und ganz am Ende wird Franziskus nicht in ein unerträglich helles Licht (so Messiaen) entrückt, sondern er verwandelt sich in eine Libelle, mit viel Lametta an den Füßen. Der Eintritt in die „Musik des Unsichtbaren“ und der Austritt aus der Ordnung der Schöpfung („Lebwohl, Kreatur der Zeit! Lebwohl, Kreatur des Raums!“, singt Franziskus im Sterben) wird hier als Zumutung für das Theater zurückgewiesen und in einen „Kreislauf der Natur“ umgebogen.

Regisseurin Anna-Sophia Mahler inszeniert das vierte Bild nicht

Anna-Sophia Mahler hat sich – wie der Kirchentag – mit der Unentrinnbarkeit der Immanenz abgefunden. Die Resignation vor dem Totalverlust der Transzendenz wird in Stuttgart aber mit großem Aufwand betrieben. Acht Stunden dauert die Aufführung. Sie ist als Volksfest an­gelegt: Zuerst drei Bilder im Opernhaus; dann findet man sich in Wandergruppen zusammen und fährt mit Bus oder U-Bahn in den Park am Killesberg. Dort geht jeder allein spazieren und hört sich über Kopfhörer und MP3-Player das vierte Bild, „Der wandernde Engel“, an; das fünfte und sechste Bild („Der musizierende Engel“ und „Die Vogelpredigt“) gibt es auf der Freiluftbühne im Park; danach geht es mit einem Sonderzug der städtischen Verkehrsbetriebe zurück zur Oper, wo alle ein vegetarisches Abendbrot be­kommen und auf dem Vorplatz wie im Haus Mahlgemeinschaft miteinander halten können. Bild sieben und acht werden im Opernhaus gezeigt.

Viel Lametta: Franziskus (Michael Mayes) wird zur Libelle.
Viel Lametta: Franziskus (Michael Mayes) wird zur Libelle.Martin Sigmund

Beim Vogelkonzert blendet man nicht nur die Namen der 41 Vögel, die der Ornithologe Messiaen wissenschaftlich ge­nau für Orchester transkribiert hat, auf der Übertitelungsanlage der Freilichtbühne ein, nein, der Heilige Franz (Michael Mayes mit Bart, Dutt und grüner Kutte in Multikulti-Batik) und seine Mitbrüder tragen jeden Vogel als Holzmodell auf die Bühne und zeigen ihn dem Publikum. Avantgarde-Oper im Format der Karl-May-Festspiele von Bad Segeberg – als niedrigschwelliges Angebot mit Heimatkundeunterricht: Das Publikum ist selig, weil ihm pädagogisch über den Kopf gestreichelt wird und die Kunst sich so zutraulich zeigt. „Ignorans sum et idiota“, hatte der Heilige Franz von sich ge­sagt, „unwissend bin ich und ein Idiot“. Das Publikum aber hat nun das Gefühl, etwas begriffen zu haben, weil es der Kunst über den Kopf streicheln konnte.

Was man hier in Stuttgart erlebt, ist die aufwendige Kapitulation vor dem Unbegreiflichen, die als pädagogische Er­mächtigung getarnte Flucht vor der Er­fahrung, mit leeren Händen dazustehen. Aber hören kann man das Unbegreifliche, wenn Michael Mayes, eine charismatische Kraft- und Frohnatur von Kerl und Stimme, die vokale Selbsterniedrigung als vollkommene Freude beschreibt und die Farbpracht seines Heldenbaritons einsichtsvoll verbleichen lässt zu „la joie, la joie parfaite“.

Das Licht, mit dem uns Bernd Purkrabek nur einen Moment lang auf der Bühne blendet, strahlt umso heller, schmerzhafter, lockender, verheißungsvoller aus dem Sopran von Beate Ritter als Engel. Pascale Martin hat für sie ein bunt-schillerndes Paillettenkostüm als Libellenhaut entworfen, sodass sie eher nach Varieté-Sängerin als wie ein Naturwesen aussieht. Der „blaue Engel“ im Varieté, der „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ ist, gehört ja schon etwas länger zum Re­pertoire der Christentumssatire. Auch Mo­ritz Kallenberg als Aussätziger (in einem eindrucksvollen Beulenkostüm wie aus verschrumpelten Fliegenaugen) zeigt singend, was Krankheit und Verstoßensein für Zumutungen sein können. Der von Manuel Pujol einstudierte, überwälti­gende Chor raunt unheimlich aus dem Jenseits und gleißt als Stimme Jesu in den Raum mit einer gewalttätigen Schönheit.

Vor allem schafft es Titus Engel als Dirigent des Staatsorchesters Stuttgart, die mosaikartig zersplitterte Musik Messiaens nicht nur zu koordinieren, sondern sie leuchten zu lassen in ihrer extremen Farbigkeit, in Zartheit und Schrecken, auch in ihrer zuweilen peinlich sprudelnden Fröhlichkeit, und sie zu fügen zu ei­ner Erzählung, die das Spektakel überspannt. Es ist diese ungebärdige Musik, die uns nicht im billigen Trost der Überlegenheit zurücklässt.