Englands Opernfestivals :
Mit Mozart in den Park

Lesezeit: 4 Min.
Auf zu tenoralen Spitzentönen: Robert Murray in der Titelpartie von Mozarts „Mitridate, re die Ponto“ in Garsington
Die englischen Sommeropernfestivals in Garsington und Glyndebourne starten mit „Mitridate“ und „Don Giovanni“.

Mozart war mitten im Stimmbruch, als er seiner Mutter im Oktober 1770 aus Mailand berichtete, die Finger täten ihm vom vielen Rezitativ-Schreiben weh. Er bat sie, für ihn zu beten, dass die Oper gutgehe, die er komponierte. „Mitridate, re di Ponto“ übertraf alle Erwartungen. Das Premierenpublikum jubelte dem bloß vierzehn Jahre alten „Maestrino“ begeistert zu. Alsbald verschwand das Familiendrama um den kleinasiatischen Despoten, der seinen Tod fingiert, um die Treue seiner Söhne Farnace und Sifare auf die Probe zu stellen, jedoch zweihundert Jahre lang in der Versenkung.

Der Jugendwurf profitiert von der Neigung, vergessene Opern aus dem Schlaf zu holen, wie es die Garsington Opera jetzt in Wormsley Park, dem idyllischen Anwesen der Getty-Familie, zum Auftakt der englischen Landhaus-Opernsaison in einer von sechs auf knapp zweieinhalb Stunden gestrafften Fassung mit vorzüglicher Besetzung und dem auf historischen Instrumenten spielenden English Concert unter dem feurigen Dirigat von Clemens Schuldt bravourös getan hat.

Regisseur Tim Albery überzeugt

Szenisch bleiben der Regisseur Tim Albery und seine Bühnenbildnerin Hannah Clark um ein überzeugendes Konzept verlegen. Mit der peu à peu avancierenden Hinterwand gelingt ihnen allerdings ein triftiges Sinnbild für die Einkesselung der Figuren durch die heranrückenden Römer und das intrigante Macht- und Gefühlsgefüge am Hof des pontischen Herrschers, den sie mit einem Mischmasch von Kostümen in eine unbestimmte Zeit verlegen. Die breite Bühne ist mit wenigen Requisiten bestückt: ein riesiges, grell bezogenes Sofa, ein Waffenschrank und ein ausgestopftes Zebra.

Dazwischen eine römische Büste sowie eine wohl die unrealistischen territorialen Ambitionen des Mitridates symbolisierende Erdkugel. Die heiklen tenoralen Spitzentöne der Titelpartie kunstvoll bewältigend, verleiht Robert Murray dem seine Kinder gegeneinander ausspielenden Mitridates die narzisstischen Züge eines König Lear. In der Hosenrolle des jüngeren Sohnes Sifare hält die warmtim­brierte Sopranistin Louise Kemény den Herausforderungen würdevoll stand. Gelangweilt in seidenem Morgenmantel herumlungernd und zwischen Whisky-Zügen mit seinem Kinderspielzeug Krieg spielend, verkörpert der Farnace des silbrig hellen Kontratenors Iestyn Davies den Inbegriff des verwöhnten Königssohnes. Er verschmäht die Liebe der für ihn bestimmten parthischen Prinzessin Ismene, deren Leid Soraya Mafi mit klaren, resoluten Koloraturen zum Ausdruck bringt, und buhlt verräterisch um die Krone und um Aspasia. Als die auch von Sifare geliebte Braut von Mitridates glänzt die zwischen Anstand und Gefühl ringende Elizabeth Watts mit volltönendend deklamatorischem Pathos.

Was für eine herrlich melancholische Arie!

Der große Mozart-Kenner Alfred Einstein meinte, „irgendein Einsichtiger“ hätte dem Knaben raten müssen, die Finger von „Mitridate“ zu lassen, bis er reifer sei. Wer würde jedoch auf die Kavatine des gedemütigt aus dem Krieg gegen die Römer zurückkehrenden Königs, auf Sifares herrlich melancholische Sopranarie „Lungi da te“, zumal mit der obligaten Naturhorn-Begleitung Ursula Paludan Monbergs, oder auf Aspasias Gefühlsausbruch in „Nel sen mi palpita“ verzichten, in denen Mozart mehr als Vorahnungen späteren Könnens aufblitzen lässt?

Während Garsington die zarten Knospen mit größtenteils britischer Besetzung präsentiert, ist Mozart in Glyndebourne, der Mutter aller englischen Landhausopern, mit einem überwiegend von Osteuropäern gesungenen „Don Giovanni“ auf der vollen Blüte seiner Kunst zu erleben, allerdings in einer allzu geschäftigen, unstimmigen Inszenierung der Französin Mariame Clément. Ihr geht es um eine für die MeToo-Generation akzeptable Charakterisierung des Schwerenöters, dessen Statue sie gleich zu Beginn der von Evan Rogister und dem Orchestra of the Age of the Enlightenment stürmisch drängend dargebotenen Ouvertüre nach Black-Lives-Matter-Art stürzen lässt.

Der Versuch, Don Ottavio nicht als Weichling zeichnen zu wollen, stürzt von einem Klischee ins andere. Clément meint Neuland zu betreten, wenn sie den zwar klangschönen, aber nicht besonders ausdrucksvollen ukrainischen Tenor Oleksiy Palchykov als Gegenbild zur „toxischen Maskulinität“ der Titelfigur aufbaut. Dabei entspricht der moldauische Bariton Andrey Zhilikhovsky weder dramatisch noch gesanglich dem Bild eines dämonisch-charismatischen Don Giovanni. Bei seiner Serenade wird ihm sogar ein Mutter-Komplex untergeschoben. Anstelle der Zofe, die er umgarnen will, wiegt eine ältere Frau einen Säugling, nach dem Motto, jeder Schurke war einmal ein süßes Baby.

Clément versammelt die Besetzung in einem altmodischen Hotel, das Julia Hansen wie für einen Agatha-Christie-Krimi geschaffen hat. Später weichen die Außenmauern einem wie ein Lunapark beleuchteten Palmengarten, in dem Leporello die Inschrift auf dem Grab des Komturs von den Hotelschlüsseln abliest. Im ständigen Ein und Aus zwischen den Zimmern stoßen die kostümierten Junggesellenabschiedspartiegäste von Zerlina und Masetto, keck und strahlend gesungen von Victoria Ramdsen und dem füllig-resonanten Michael Mofidian, mit der hohen Gesellschaft zusammen.

Der Komtur stürzt im Kampf mit dem balaclava-vermummten Schänder seiner Tochter tödlich die Treppe hinunter. Das hindert die stimmlich angespannte Venera Gimadieva als Donna Anna und Ottavio freilich nicht daran, sich gleich nach dem Racheschwur gegen den Mörder mit eindeutig erotischer Absicht zu verziehen. Eine überdrehte Donna Elvira (Ruzan Mantashyan) ruft übers Mi­krophon dazu auf, ihr bei der Suche nach dem Schuft zu helfen, der sie verlassen hat. Während Mikhail Timoshenko sie als Leporello in dunkel gefärbten, Abscheu vermittelnden Tönen über die Faxen seines Herren aufklärt, wechseln die Gemälde vor den Hotelzimmern auf einen Schlag von bukolischen Landschaften zu nackten Busen. Und für das große Fest kommt eine gigantische Sahnetorte angerollt, in deren angegessenem, schimmeligem Rest sich Don Giovanni für seine Henkersmahlzeit eingenistet hat. Sein Höllengang lässt wie der Rest des Abends viel zu wünschen übrig.