Pasolini-Oper in Berlin :
Befreiender Beischlaf

Von Gerald Felber
Lesezeit: 4 Min.
Eine verkrustete Mailänder Industriellenfamilie bekommt Besuch - und mit der bourgeoisen Langeweile ist es vorbei
Existenziell: Giorgio Battistelli hat „Il Teorema“ von Pier Paolo Pasolini zur Oper gemacht. Die Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin gelang bestens.

Dieser Uraufführungsabend, straffe hundert Minuten ohne Pause, war einer von denen, wo man entweder schnell abwinken und entfliehen mochte – oder sich halt dreinfand und am Ende vielleicht sogar angetan sein konnte: ein „Sowohl- als-auch“ kam hier nach Stoff wie Verarbeitung kaum infrage. Die Premierengäste an der Bismarckstraße entschieden sich ziemlich einhellig für Option zwei, und sie hatten recht: Es wurde, alles in allem, gutes Musiktheater geboten.

Wobei die erste Hälfte des Kompositums – die neue Partitur des siebzigjährigen Giorgio Battistelli, der sich dem gleichen, von Pasolini sowohl als Film wie als Roman verarbeiteten Stoff schon 1990 einmal gestellt hatte – ein wesentlicher, aber kaum ausschlaggebender Teil des Erfolgs war. Als pures Hörerlebnis etwa auf CD mag man sich diese mit routinierter Delikatesse gesetzten, den Raum durchfedernden (manchmal auch nur durchschlurfenden) Klangbänder und die rezitativisch skandierenden, sich gelegentlich melodienah verflüssigenden oder mit affektgeladenen Melismen verzierten Vokalpartien nicht recht vorstellen: zu wenig eindringlich das Ganze, zu wenig voneinander abgesetzt die einzelnen Figuren.

Seine Stärke hat der Zweiteiler ohnehin nicht in der Charakterentwicklung – zumal die Handelnden, Pasolini folgend, auch von ihren eigenen Gefühlen in der dritten Person singen –, sondern eher in einer pointierten Situationsausleuchtung: wohlproportioniert, mit gut funktionierendem Sinn für Akzentsetzungen, Dichte- wie Tempodifferenzierungen und sängerdienlich dazu – zumindest, wenn das alles so unaufdringlich geschliffen und selbstbewusst behutsam vermittelt wird wie hier vom Orchester unter Daniel Cohens Leitung.

Dabei ist der Handlungsführung nicht leicht beizukommen. Das „Teorema“, im engeren Sinne ein mathematischer Lehrsatz, erscheint bei Pasolini als quasi naturwissenschaftlich angelegtes Demonstrationsstück über zwischenmenschliche Auflösungsprozesse. In einer vierköpfigen Mailänder Großbürgerfamilie samt Dienstmädchen schlägt ein Überraschungsgast auf, verführt nacheinander alle Beteiligten – Weib wie Mann querbeet – und bricht dadurch jene Krusten auf, die sie bisher um ihr eigenes Leben und ihren Umgang miteinander gelegt haben. Die Folgen des Aufbruchs sind durchweg schmerzhaft: Der Sohn des Hauses versucht sich als Body-Art-Künstler und scheitert, die Bediente verfällt in religiösen Wahn, die Mutter geht auf den Strich, und das Familienoberhaupt macht sich nackig und verabschiedet sich – dies die letzte Aktion des Stückes – mit einem Urschrei in die Wüste.

Inszeniert hat das Kollektiv Dead Centre

Die Konsequenz solch didaktischen Durchbuchstabierens ist eine Art Abzählreim-Geometrie, bei der spätestens nach dem je zweiten Beschläfnis und Wegdriften das Vorwissen darum, dass nun mit einiger Zwangsläufigkeit wohl noch die Nummern drei bis fünf folgen werden, ernüchternd mitspielt. Richtig spannend ist das naturgemäß nicht, und es war dann umso bemerkenswerter, mit welch gewitzter Intelligenz das britisch-irische Inszenierungskollektiv „Dead Centre“, hier erstmals im Musiktheater zugange, und sein Stab diesen dürren Vorgaben dennoch Abwechslungsreichtum und sogar eine gewisse Spannung entlockten.

Voneinander getrennte Bildkojen (Ausstattung Nina Wetzel) betonten den Vorführcharakter der einzelnen Aktionen, was auch etwas von einem bitter-putzigen Menschenzoo an sich hatte; Konsumwerbungsfarbigkeit und scherenschnitthafte Abstraktion im Wechsel, protokollarische Notizen der jeweiligen Orte und Befindlichkeiten, Video und Handkamera satt: viele Medien gingen hier ineinander, aber zu viele wurden es nicht, weil ihre geschickte Rhythmisierung das parabelhafte Gerüst sinnlich auspolsterte und damit auch der Medium-Dry-Stilistik von Battistellis Musik entsprach.

Selbst eine angesnobte Idee wie die, den Bühnenfiguren in der ersten Hälfte stumm agierende Schauspiel-Doubles beizugesellen, während sie selbst vorerst aus Hochsicherheits-Laboranzügen heraussangen und ihre körperstimmliche Identität erst nach dem lebenskrampflösenden Koitus zurückerhielten, wurde mit fast eleganter Leichtigkeit umgesetzt. Einzig der ominöse Gast, verkörpert durch den diskret ausstrahlenden Nikolay Borchev, hatte von Anfang an beides beieinander. Er wie die anderen fünf Protagonisten – Ángeles Blancas Gulín, Meechot Marrero, Monica Bacelli, Davide Damiani und Andrei Danilov – waren durchweg souverän und engagiert genug, um Einzelhervorhebungen ungerecht zu machen; der Komponist hatte in ihnen wie in der einfallsreichen Inszenierung gute Sachwalter.

Bleibt die Frage – und sie hinterlässt jene leise Spur Unbehagen, die das ganze schaurige Vergnügen dann doch nicht völlig ungetrübt zur Entfaltung kommen ließ –, ob die intimen Probleme und Verklemmtheiten einer italienischen Indus­triellenfamilie der 1960er unsereinem, eingekeilt zwischen Heizkosten-Nachrechnung, Onlinewichtigtuerei und der nächsten Steuererklärung, noch besonders viel Erkenntnisträchtiges mitzugeben haben. Dass auch bourgeoise Clans so ihre Sorgen und leergelaufene Lebensentwürfe einen gewissen Ewigkeitswert haben – eigentlich geschenkt. Worüber man freilich nachdenken darf: ob sie damals, vor einem halben Jahrhundert, vielleicht doch ein anderes, existenzielleres Gewicht hatten als in unserer verzappelten, alle Tage neue Problemchen oder Sensatiönchen durch die Kanäle treibenden Gegenwart.

Die bittere, selbst befragende Ernsthaftigkeit ins ganz Private hinein, wie sie Pasolini demonstrierte und schließlich auch selbst lebte: Sie kommt in dieser Opern-Umformung zwar einigermaßen aufgeweicht, aber immer noch deutlich genug herüber.