Roman und Film von Pier Paolo Pasolini als Oper in einer Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin

Xl_dob_teoremaohp_hf_-37eike_walkenhorst © Eike Walkenhorst

Deutsche Oper Berlin

Il Teorema di Pasolini 

Musik von Giorgio Battistelli

Uraufführung am 9. Juni 2023

Wie aufregend und spannend müssen Roman und Film Il Teorema  von Pier Paolo Pasolini gewesen sein, als diese 1968 herauskamen, immer noch zu Zeiten der Verbote und Verbannungen von Pasolinis Werken und seiner Person. Das ist heute nur noch schwer nachvollziehbar, aber die Thematisierung als Oper gelingt der Deutschen Oper Berlin dennoch in achtbarer Form. 

In der Vorlage erzählt Pasolini die Geschichte einer groß-bürgerlichen Familie im Besitz einer Fabrik im Raum Mailand. Die vier Mitglieder der Familie plus die Hausangestellte werden von einem fremden, jungen Gast aufgesucht, der mit allen fünf Familienmitgliedern Sex hat. Diese Begegnungen sprengen den großbürgerlichen Panzer aller Beteiligten und lassen diese auf einer individuellen Suche nach dem wahren Sinn ihres Lebens auseinanderlaufen. 

Die Hausangestellte wird zu einer Art Wunderleiligen, die Mutter sucht sexuelle Zufallskontakte mit jungen Männern, der Sohn versucht sich erfolglos als Künstler und der Vater läuft in die Weite, entkleidet sich und sucht nackt mit einem Urschrei den Beginn einer neuen Existenz – vielleicht damit zugleich Aufruf und Frage Pasolinis und Batistellis an den heutigen Zuschauer... ?   

Der Komponist Giorgio Batistelli (* 1953) hat Pasolinis Romanvorlage in seinem Werk in Zusammenarbeit mit dem Librettisten Ian Burton weitestgehend unverändert nachvollzogen. Allerdings lässt er ein wesentliches Element bei der Figur des Vaters und Fabrikbesitzers weg: im Roman Pasolinis verschenkt dieser seine Fabrik an die eigenen Arbeiter. Dieser Vorgang wird von einer imaginierten Journalistenfigur auf alle möglichen Weisen kommentiert und hinterfragt. Für einen der Regisseure – Ben Kidd – ist dies ein kluger Schachzug, um die Betrachtung nicht auf ein ökonomisch-politisches Szenario des Jahres 1968 zu verengen, sondern dem Szenario einen allgemeingültigeren Betrachtungsrahmen zu geben.

Hans Werner Henze hatte sich die Rechte an dem Stoff für eine Opern-Adaption früh gesichert und schon in den 80er Jahren Battistelli als Auftragswerk für die Biennale 1990 in München übertragen. In dieser ersten Auseinandersetzung mit dem Stoff schuf Batistelli seine erste Musikfassung, seinerzeit noch mit stummen Schauspielern und einem Sprecher, also ohne Gesang. Erst nach langer Zeit und einer Vielfalt von weiteren Kompositionen – u.a. den Opern Giulio Cesare und Richard III  - hat er nunmehr die jetzt in der Deutschen Oper Berlin uraufgeführte, gewissermaßen vervollständigte Oper fertiggestellt.   

Batistelli ist ein Musiker vielschichtiger Genres. Eine seiner ursprünglichsten Kreationen ist die Komposition Experimentum Mundi, einer opera di musica immaginistica aus dem Jahre 1981, in welcher ein Schauspieler, fünf Frauenstimmen, sechszehn Handwerker aus seinem Heimatdorf Albano Laziale und ein Schlagzeuger mitwirken. Es beschreibt durch den technischen Fortschritt überwiegend untergegangene handwerkliche Tätigkeiten wie in der Form einer magischen Beschwörung. Das Spektakel ist in dieser Besetzung fast um die ganze Welt gereist und hat gewissermaßen italienische Lebensart auf dem gesamten Globus repräsentiert.

Für die szenische Darstellung zeichnet das Regieteam Dead Centre aus Dublin/Irland verantwortlich. Dahinter stecken die Regisseure Ben Kidd und Bush Moukarzel, die mit einer Vielzahl gänzlich unterschiedlicher Projekte weltweit tätig sindGelungen ist diese Umsetzung einer Oper vor allem dadurch, dass ein allgemeiner, weniger zeitspezifischer Zugriff auf den Stoff zusammen mit einer feinsinnigen, durch eine ausgeklügelte Bühnen- und Videokunst perfekt gestaltete Raumimagination so überzeugend ineinandergreifen, dass der Zuschauer gebannt in die filmartig ablaufenden Szenen mit Spannung hineingezogen wird (Ausstattung Nina Wetzel, Videokunst Sebastian Dupouey).

Die fünf Darsteller des Romans – die Familie und die Hausangestellte – werden auf der Bühne gedoppelt mit einem Sänger und einem stummen Schauspieler bzw. einer Schauspielerin dargestellt. Die Bühne ist in der Weise zweigeteilt, dass im Vordergrund ein wissenschaftliches Team in Schutzanzügen agiert, welches die Handlungsabläufe beobachtet, aufzeichnet und auch im Einzelfall in die Handlung eingreift. Temperatur der Umgebung, der Pulsschlag der beobachteten Personen sowie andere wissenschaftliche Parameter werden auf dem Gazevorhang dazwischen fortlaufend angezeigt.

Die eigentlichen Handlungsabläufe werden wie in Passepartout-Ausschnitten eines Zwischenvorhangs in insgesamt sechs verschiedene Handlungsräumen gezeigt. Wissenschaftler und Romanpersonen – das heißt auch Schauspieler und Sänger - vermischen sich im Laufe der Zeit, so dass ein unwirklicher, traumhafter Erlebnisraum mit magischer Wirkung entsteht.   

Das Ensemble der Sänger mit Nikolay Borchev als Gast, Angeles Blancas Gulin als Mutter Lucia, Davide Damiani als Vater Paolo, Andrei Danilov als Sohn Pietro, Meechot Marrero als Tochter Odetta sowie Monica Bacelli als Hausangestellte Emilia überzeugt in seiner darstellerischen Geschlossenheit und stimmlichen Kompatibilität.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin unter der Leitung von Daniel Cohen vermag die speziellen Klangwelten des Komponisten mit ihrem tendenziell gleichmäßigen, wenig dynamisierten Erzählstrom und vielfältigen Triller- und Glissandi-Effekten einfühlsam zu präsentieren.

Nicht zu Unrecht erhielt das gesamte Ensemble, das Regieteam sowie der anwesende Giorgio Battistelli starken Beifall und viele bravi-Rufe des offensichtlich sehr zugewandten Publikums.   

Achim Dombrowski

Copyright:  Eike Walkenhorst

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