Alban Berg / Lulu / Wiener Festwochen
Darsteller in schwarzweißer Kleidung auf der Bühne bei Alban Bergs "Lulu".
Standard / Monika Rittershaus

Das Orchester, statt im Graben, hoch oben im hinteren Teil der Bühne, davor Dirigent Maxime Pascal als eine Art Schiedsrichter, der den "Anpfiff" zum Opernmatch gibt. Pascal agiert auf einem Podest, das mitten im nüchternen Handlungsraum steht. Unter ihm breitet sich im Museumsquartier (Halle E) ein Turnsaal der Figuren aus, in dem exakte Gesten und Regungen zelebriert werden. Es ist eine artifizielle Welt der Menschenpuppen, die Choreografin und Regisseurin Marlene Monteiro Freitas für Alban Bergs Lulu entworfen hat. In ihrer ersten Opernregie wirken Gesang, Tanz, Akrobatik und absurde Clownerie zu einer szenischen Installation vereint, die semikonzertante Opernkonvention mit einer frei assoziierenden choreografischen Übermalung verbindet.

Nicht nur modisch wirkt das Kollektiv uniform: Alle tragen blaues Schuhwerk, weiße Shirts und bisweilen schwarze unfertige Anzüge. Überwiegend mechanisch und nüchtern ritualisiert bleiben auch die Aktionen der Figuren. Wie ferngesteuerte Schlafwandler verhalten sich selbst die Sänger und Sängerinnen bisweilen, die ein unnahbares Wesen umschwirren. Eine Lulu, die eiskalt und distanziert bleibt, die mithin einer narzisstischen Schaufensterpuppe gleicht, während um sie herum Männer an ihrem eigenen Begehren verbrennen.

Auch das Sterben ist bei Marlene Monteiro Freitas ritualisiert bis in die kleinste Geste. Wenn der Maler, längst Lulus Ehemann, Selbstmord begeht, ist zu sehen, wie er sich – in einen Spiegel blickend – unentwegt im Gesicht Schnitte zufügt. Das rührt sie nicht sonderlich. Konsequent empathielos fotografierte Lulu auch den toten Medizinalrat, den der Schlag getroffen hat (Franz Tscherne).

Enigmatische Ideenfülle

Nur selten ereignet sich ein individueller körperlicher Ausbruch aus Freitas’ strenger Geometrie der Bewegungen. Wenn etwa Lulu es nötig hat, jemanden zu umgarnen, wird sie gleichsam lebendiges manipulatives Wesen, das schon mal oben auf dem Podest hinter dem Dirigenten mit Verehrern Dispute führt. Das vokale Element kündet hier immer von exaltierter Emotion: Lulu, diese Projektionsfläche für Sehnsüchte aller Art, führt die deutsche Sopranistin Vera-Lotte Boecker souverän und mutig auch an die Grenzen des vokal Bewältigbaren. Gestischer Minimalismus trifft auf vokale Dramatik.

Seltsam, dass das Ganze dann doch eher zäh wirkt. Im Grunde baut Freitas, die zusammen mit Yannick Fouassier für die Bühnenanordnung verantwortlich zeichnet, mit Tänzern und Tänzerinnen um Lulu und deren männlichen Figurenharem herum eine endlose Folge von Kommentaren, Verdopplungen und freien Extrapolationen. Szenische Gleichzeitigkeit und gestische Mehrstimmigkeit sind das Grundprinzip dieser genauen und ambitionierten Arbeit.

Trotz der Ideenfülle führt das bisweilen Uneindeutige der vielen Seitenszenen und der minutiös ausgestalteten Tanzgesten allerdings etwas weg von Alban Bergs Oper. Tanz und Operngeschehen werden einander choreografisch angenähert, bleiben allerdings, was das inhaltliche anbelangt, voneinander durch Abstraktion entfremdet.

Darstellung hoher Qualität

Um diese exzellente Lulu herum jedenfalls Qualität: von hoher Intensität Bo Skovhus als Dr. Schön, edel Edgaras Montvidas als Alwa, ebenso Cameron Becker als suizidaler Maler. Von hoher Präsenz Anne-Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz, an deren Spiel die Exaktheit von Freitas’ bis ins kleinste mimische Detail gehenden Arbeit zu sehen war. Kurt Rydl spielt als Schigolch sein Operncharisma eindringlich routiniert aus.

Bei dieser Gemeinschaftsarbeit der Wiener Festwochen mit dem Musiktheater an der Wien wurde die abrupt endende, weil durch Bergs Tod unvollendete Fassung gewählt, also jene ohne die durch Friedrich Cerha erarbeitete Vervollständigung. Als pantomimische Coda wird denn auch eine Szene zwischen einem kindlich-puppenhaften Wesen und einem Herrn in Schwarz angehängt, während Teile aus Bergs Lulu-Suite erklingen. Das wiederum hatte etwas von einer besonderen, unheimlichen Zeitlupenpoesie.

Das formidable ORF-Radiosymphonieorchester Wien stattete mit Dirigent Maxime Pascal die abstrakte Poesie dieser Musik mit nötiger Innenspannung wie Aura aus und wirkte bei den dramatischen Kulminationen und Verdichtungen ebenso ausgewogen. Viel Applaus, einige Buhs für die Regie, vielleicht weil sie sich einer opernhaften Ausgestaltung von Gefühlsexzessen (mitunter leider zu konsequent) verweigerte. (Ljubisa Tosic, 28.5.2023)