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Opern-Kritik: Staatstheater Wiesbaden – Aus einem Totenhaus

Im Archiv der zeitlos Lebenden

(Wiesbaden, 30.4.2023) Im zweiten Teil des Janáček-Doppels am Staatstheater Wiesbaden gab Regisseur Nicolas Brieger Raum für spannende Assoziationen in der Dostojewski-Vertonung „Aus einem Totenhaus“, der gewählte Archivgedanke gelang aber nicht gänzlich.

vonWolfgang Wagner,

Regisseur Nicolas Brieger und Bühnenbildner Raimund Bauer lassen Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ dort beginnen, wo ihre Produktion von „Die Sache Makropulos“ endete: In einem Archiv. Ein schlüssig erscheinender Ansatz, weil auch Dostojewskis Romanvorlage zum von Janáček selbst zusammengestellten Libretto als Archiv konzipiert ist: Die von einem ehemaligen Häftling hinterlassenen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, so der Titel bei Dostojewski, sind von einem fiktionalen Herausgeber veröffentlicht und mit einem Vorwort versehen. Ein Rahmen, den Janáček getilgt hat. In der Wiesbadener Produktion will der Archivgedanke jedoch nicht recht aufgehen. Über den Verlauf der durchinszenierten Ouvertüre ist eine Gemeinschaft Eingeschworener damit beschäftigt, Aufzeichnungen zu erstellen und diese bei Durchsuchungen vor Widersachern zu verbergen, die in den Kostümen von Andrea Schmidt-Futterer an NS-Schergen erinnern. Wer hier wessen Aufzeichnungen erstellt, bleibt deutungsoffen. Dennoch wird damit ein spannender Assoziationsraum angeboten.

Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden
Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden

Der Häftlingsalltag als Tableau

In der Konzeption von Janáček hat die Oper keinen klar benennbaren Protagonisten und keinen stringenten Handlungsverlauf, sondern erscheint als zerklüftet, episodisch, fragmentarisch. Gefängnisinsassen erzählen die Geschichten ihrer Verbrechen, die sie in das Straflager geführt haben. Parallel dazu ereignet sich der Häftlingsalltag. Zeitlichkeit ist nicht gegeben, da sich die Figuren stets auf die abgelebte Vergangenheit fokussieren und die Gegenwart als ein von monotoner Zwangsarbeit dominiertes, endloses Tableau erscheint. Abwechselung bietet da höchstens die Ankunft des neuen Gefangenen Alexander Petrowitsch Gorjantschikow (Christopher Bolduc) zu Beginn der Opernhandlung. In den Fixpunkten der erzählten Verbrechen fällt auf, dass alle Häftlinge in der Schilderung des Vergangenen viel indirekte Rede verwenden. Sie imitieren ihre abwesenden Angehörigen und ihre Opfer, deren Worte sich ihnen ins Gedächtnis eingebrannt haben. Diesen besonderen schauspielerischen Anspruch meisterte Claudio Otelli in seiner Darstellung des Mörders Schischkow überragend.

Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden
Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden

Figurenregie der lebensverneinenden Erstarrung

Als Schischkow im dritten Akt von seiner Verlobten Akulka, ihren Eltern sowie dem Räuber Filka berichtet, mimte Claudio Otelli mit großer Varianz in der stimmlichen Imitation und mit jeweils charakterspezifischer Körpersprache die verschiedenen Figuren. Damit vergegenwärtigte er intensiv die erinnerte Szene. Den längsten aller Verbrechensberichte sängerisch so exzellent zu besetzen, war zweifellos eine kluge Entscheidung. Doch selbst eine solche Leistung benötigt einen sie tragenden szenischen Kontext. Die Figurenregie von Nicolas Brieger setzt vor allem im dritten Akt, der in einem Lazarett spielt, darauf, die Unfreiheit der Charaktere zum selbstermächtigenden Handeln zu vergegenwärtigen. Unter den Kranken und Geschwächten herrscht lähmende, lebensverneinende Erstarrung, die jedoch dank der starken schauspielerischen Leistungen des Ensembles eine glaubwürdige Spannung menschlichen Elends vermittelt.

Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden
Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden

Unauslöschliche Rachsucht

Aber auch die weiteren Szenen mit Verbrechensberichten sind spannend umgesetzt. Aaron Cawley in der Partie des Luka Kusmitsch porträtiert eindringlich das Unvermögen des Charakters, die Ständehierarchien anzuerkennen, was ihn schließlich zum Mörder machte. Und Samuel Levine ließ sein Publikum die unauslöschliche Rachsucht des Skuratow fühlen, der nicht seinen Frieden damit machen kann, von seiner Geliebten zu Gunsten eines reicheren Mannes verlassen worden zu sein. Einen Kontrast zu all dem Leid und den auserzählten menschlichen Abgründen bildete das Theater im Theater. Im zweiten Akt führen die Gefangenen ein Theaterstück auf, das den Don-Juan-Stoff aufgreift, und gestalten eine Pantomime über eine schöne Müllerin, um die sich die Männer reißen. Selbstverständlich werden alle Frauenrollen von Männern übernommen. Diese mit reichlich Bühnenpersonal bedachte Zwischenszene bot dem ganzen Ensemble reichlich Gelegenheit zu unterhalten.

Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden
Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden

Die verscherbelte Freiheit

Im Anschluss an die Theater-Szene bietet eine Prostituierte ihre Dienste an. Hier vollzieht Nicolas Brieger eine Überblendung der Figur der Dirne mit dem verletzten Adler. Diesen haben die gefangenen zu Beginn der Oper aufgenommen und pflegen ihn gesund. In der Wiesbadener Produktion ist der Adler allerdings nicht als Attrappe dargestellt, sondern personifiziert (gespielt von Stella An). Der Adler steht bei Janáček als Metapher für die persönliche Freiheit. Dass die Freiheit / der Adler sich als Dirne hergibt, setzt ein starkes Statement, das den finalen Inszenierungsclou antizipiert. Das Hessische Staatsorchester Wiesbaden unter der Leitung von Johannes Klumpp, das schon in „Die Sache Makropulos“ bewies, sich das mitunter spröde anmutende musikalische Vokabular Janáčekscher Manier angeeignet zu haben, zeigte auch in der Interpretation dieser stärker von Gegensätzen und Kontrasten geprägten Partitur seine Könnerschaft. Episoden zarter, lyrischer Leuchtkraft gelangen ebenso wie die schroffe, kalte Welt der Militärmusik. Lautmalerische Elemente, wie Janáčeks Entscheidung, das Rasseln der Ketten, mit denen die Gefangenen gefesselt sind, mit in die Partitur einzuarbeiten, akzentuierte der Klangkörper klar und somit semantisch gut nachvollziehbar.

Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden
Szenenbild aus „Aus einem Totenhaus“ am Staatstheater Wiesbaden

Archiviertes Lebensschicksal

Die nachdrückliche Andeutung einer Beziehung zwischen dem jungen Aljeja (Julian Habermann) und Alexander Petrowitsch Gorjantschikow wirkte plausibel, weil sowohl aus dem Text des Librettos als auch der Musik eine starke emotionale Bindung zwischen den beiden Männern hervorgeht. Man bedenke zudem den Kontext der nahezu frauenlosen Männergesellschaft des Lagers, in der die beiden leben. Als durchaus radikal kann man indessen die Entscheidung bezeichnen, das Ende der Oper in gründlicher Emanzipation von der Vorlage mit einer Verneinung der Freiheitsutopie zu inszenieren. Als Alexander Petrowitsch Gorjantschikow freigesprochen wird und das Gefängnis verlassen darf, beginnt für ihn nicht etwa ein neues Leben. Kaum hat er einige wenige Schritte hinter das Gefängnistor gewagt, erschießt ihn hinterrücks ein Wächter. So ist seine individuelle Chance, aus der Zeitlosigkeit des Lagers auszubrechen, zerstört, und auch sein Schicksal liegt besiegelt im Archiv.

Staatstheater Wiesbaden
Janáček: Aus einem Totenhaus

Johannes Klumpp (Leitung), Nicolas Brieger (Regie), Raimund Bauer (Bühne), Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme), Valentí Rocamora i Torà, Christopher Bolduc, Julian Habermann, Samuel Levine, Aaron Cawley, Ralf Rachbauer, Jiří Sulženko, Stella An, Claudio Otelli, Kristofer Lundin, Ján Rusko, Mikhail Biryukov, Darcy Carroll, Erik Biegel, Tianji Lin, Benjamin Hee, Chor, Chorsolisten & Statisterie, des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

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