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Musiktheater
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Der Idiot

Oper in vier Akten
Libretto von Alexander Medvedev nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Dostojewski
Musik von Mieczysław Weinberg


In russischer Sprache mit deutschen und englischen Übertiteln

Vorstellungsdauer: 3h 40' (eine Pause)

Premiere (österreichische Erstaufführung) am 28. April 2023 am Theater an der Wien (im Museumsquartier, Halle E)

Logo: Theater an der Wien

Theater an der Wien
(Homepage)

Verschneit ist der Wald, dunkel die Seelen …

Von Roberto Becker / Fotos: © Monika Rittershaus

Die Biographie des Komponisten Mieczysław Weinberg (1919-1989) ist auf exemplarische Weise mit den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts verbunden. In seiner 2010 bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführten, schon Ende der 1960er Jahre fertiggestellten Auschwitz-Oper Die Passagierin wurde das auch auf der Bühne deutlich. Während seine Familie der Judenverfolgung der Nazis zum Opfer fiel, konnte Weinberg in die Sowjetunion flüchten, wo er als Komponist zunächst von seiner Freundschaft mit Dmitri Schostakowitsch profitierte. Dennoch geriet er als Jude in die Mühlen der stalinistischen Verfolgungsmaschinerie. Schostakowitschs Fürsprache und der Tod des roten Zaren 1953 retteten ihn. Er lebte sogar weiter in Moskau. Zu seiner künstlerischen Hinterlassenschaft gehören über zwanzig Sinfonien und die bis zur Bregenzer Passagierin"-Pioniertat im Westen bis dahin ignorierten sieben Opern.

Vergrößerung Begegnung in der Eisenbahn: Fürst Myschkin (links) und Rogoschin (rechts) - hinter Fürst Myschkin steht Lebedjew

Den Ruhm der szenischen Uraufführung seiner letzten Oper Der Idiot, deren von Alexander Medwedew zum Libretto verdichteter Plot dem gleichnamigen Roman von Fjodor Dostojewski aus dem Jahre 1868 folgt, konnte sich das Deutsche Nationaltheater Mannheim vor zehn Jahren an die Fahne heften (unsere Rezension). Den der österreichischen Erstaufführung jetzt Stefan Herheim mit seinem Theater an der Wien. Inszeniert hat der Russe Vasily Barkathov. Der noch nicht ganz 40jährige hat sich mit etlichen gelungenen Inszenierung - wie vor kurzem mit Tschaikowskys Zauberin in Frankfurt - längst einen Namen gemacht. So wie Dmitri Tscherniakov oder Kirill Serebrennikov ist seine Haltung zu Putins Krieg eindeutig. Gleichwohl gab er am Tag der Premiere im KURIER zu Protokoll: "Schweigen heißt nicht zustimmen. […] Wer sich äußert, kann schnell in Gefahr kommen. Die Angehörigen auch."

Wie schon in Mannheim stand auch im Wiener Museumsquartier wieder der schon biographisch mit russischer Musik besonders verbundene Dirigent Thomas Sanderling am Pult. Zusammen mit dem ORF Radio-Symphonieorchester und einem exquisiten Solisten-Ensemble der Extraklasse wurde diese Erstaufführung zu einem spektakulär gelungenen Österreich-Entree für Weinbergs 1986 vollendete Literaturoper!

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Die Schauplätze lassen ich im Handumdrehen verändern ….vorn die Tafel steht bei General Jepantschin

In Wien setzte er auf eine klug durchdachte, die Kammerspielaspekte dieses Panoramarundblicks auf die Landschaften der russischen Seele betonende Inszenierung. Es könnte tatsächlich ein tief verschneiter russischer Wald sein, der da an den Fenstern des Eisenbahnwaggons mitten auf der Drehbühne vorbeizieht. Mit einem Musterbeispiel von sinnvoll eingesetzten Videos sorgt Christian Borchers für die Illusion eines fahrenden Zuges. Hier treffen der aus der Schweiz von der Kur heimkehrende Fürst Myschkin und der reiche, zwischen Macher und Macho changierende reiche Kaufmann Rogoschin aufeinander. Sie kommen ins Gespräch, kennen dieselben Leute und kommen schließlich nicht mehr voneinander los. Verbunden mit jeder Menge parlandoergiebigem Hin und Her wird die Obsession Rogoschins für die Edelkurtisane Nastassia und Myschkins Helfersyndrom zum Zentrum der Beziehung zwischen den beiden so verschiedenen Männern. Um diese Nastassia wird öffentlich gefeilscht - am Ende ist sie tot und beide trauern gemeinsam um die von Rogoschin umgebrachte Schönheit.

Vergrößerung Rogoschin (im Zentrum) - haut auf den Putz

Das Ganze hat aber in der komplexen Dichte der Beziehungen auch etwas von einer Operation am offenen Herzen, die an die dunkle Spiegelbildversion einer Cosi-fan-tutte-Konstellation erinnert. Hier treffen das Schwanken der Gefühle in alle Richtungen bei Myschkin und Nastassia auf die Entschlossenheit, mit der Rogoschin und Aglaja ihre Obsessionen in Beziehung auf Nastassia bzw. Myschkin verfolgen.

Geschickt und im Handumdrehen erlaubt der zentrale Eisenbahnwaggon auf der Drehbühne von Christian Schmidt den Wechsel der Schauplätze. Die Rückkehr zu der immer gleichen Szene des Anfangs, bei der sich Myschkin und Rogoschin gegenübersitzen, der Fürst sich an seinem Reisegepäck festklammert und Rogoschin ihm immer wieder ein Glas (vermutlich Wodka) anbietet, aber auch sich selbst mit dem Messer ritzt und seine Hand über eine offene Flamme hält, ist ein szenisches Leitmotiv, nach dem Kultfilm-Motto: täglich grüßt ...

Die Faszination dieser Produktion resultiert aus der szenischen Präzision und der musikalischen Faszination von Weinbergs Musiksprache. Das fängt schon mit den harten Orchesterschlägen zum Auftakt und dem Schicksals-Pathos der Bläser an. Aber auch der Zug ins schwermütig melancholische und dann wieder das rhythmisch grundierte Parlando begründen die Faszination einer Musik, bei der ein Wiederschein des spätromantischen Erbes ebenso durchschimmert, wie die Inspiration von Schostakowitschs Vitalität. Das mag eine Kombination sein, mit der besonders die dogmatische Nachkriegsmoderne im Westen ein grundsätzliches Problem hatte, die heute aber eher für Rückenwind auf dem Weg ins Repertoire sorgen dürfte.

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Rogschin und Myschkin an der Leiche der Nastassia

Das Sahnnehäubchen auf diesem jüngsten Wiener Opernschmankerl ist allerdings die referenzverdächtige Besetzung. Das fängt an bei dem gleichwohl gebrochen zögerlich spielenden, aber strahlend auftrumpfenden Tenor Dmitry Golovnin in der Titelpartie, in der er auch schon in Mannheim beeindruckte. Es setzt sich fort in der dunklen Vitalität mit der Dmitry Cheblykov den Kaufmann Rogoschin so spielt und singt, dass auch Myschkin seiner Anziehungskraft erliegt. Ein Muster an müheloser vokaler Leuchtkraft sind Ekaterina Sannikova als Nastassja auf der einen und die Unerschütterlichkeit von Ieva Prudnikovaite als Aglaja auf der andere Seite Myschkins. Aus dem umfangreichen übrigen Ensemble können sich vor allem Petr Sokolov als Lebedjew oder Ksenia Vyanznikova als Generalsgattin Jepantschina eindrucksvoll profilieren. Das Ganze ist durchweg ein vokaler Genuss, der sogar über die akustischen Misslichkeiten der Ausweichspielstätte im Museumsquartier hinwegtröstet.


FAZIT

Die österreichische Erstaufführung von Weinbergs Oper ist als überfällige Großtat in jeder Hinsicht exemplarisch gelungen. Und sie führt wieder zu der Frage: Wieso eigentlich erst jetzt?



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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Thomas Sanderling

Inszenierung
Vasily Barkhatov

Bühne
Christian Schmidt

Kostüme
Stefanie Seitz

Video
Christian Borchers

Licht
Alexander Sivaev

Chor
Erwin Ortner

Dramaturgie
Christian Schröder


Arnold Schoenberg Chor

ORF Radio-Symphonieorchester Wien


Solisten

Fürst Myschkin
Dmitry Golovnin

Nastassja
Ekaterina Sannikova

Lebedjew
Petr Sokolov

General Jepantschin
Valery Gilmanov

Jepantschina
Ksenia Vyaznikova

Aglaja
Ieva Prudnikovaitè

Alexandra
Tatjana Schneider

Ganja
Mihails Culpajevs

Totzki
Alexey Dedov

Warwara/ Warja
Kamile Bonté

Adelaide (stumme Rolle)
Bernadette Kinzig

Pianist (Bühne)
Kennan Berveniku-Brunner


Weitere Informationen

Theater an der Wien
(Homepage)





Da capo al Fine

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