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Der Idiot. Alexey Dedov (Totzki), Ekaterina Sannikova (Nastassja), Petr Sokolov (Lebedjew), Ksenia Vyaznikova (Jepantschina), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Ieva Prudnikovaité (Aglaya). Foto: Monika Rittershaus.
Der Idiot. Alexey Dedov (Totzki), Ekaterina Sannikova (Nastassja), Petr Sokolov (Lebedjew), Ksenia Vyaznikova (Jepantschina), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Ieva Prudnikovaité (Aglaya). Foto: Monika Rittershaus.
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Auf der Durchreise – Mieczysław Weinbergs „Der Idiot“ in Wien als Psychothriller

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Mieczysław Weinbergs (1919-1996) „Die Passagierin“ gehört zu den zentralen Opern der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Und das, obwohl das 1968 vollendete Werk, nicht nur von den Grauen in Auschwitz handelt, sondern auch dort spielt, erst 2010 in Bregenz uraufgeführt wurde. Seiner letzten Oper „Der Idiot“ (1986) nach Fjodor Dostojewskis gleichnamigem Roman, den Alexander Medwedew zum Libretto verdichtet hat, ging es so ähnlich. Deren Uraufführung gab es erst 2013 in Mannheim. Jedes Mal staunte die Opernwelt über etwas, worüber sie eigentlich hätte schockiert sein müssen: Wieso eigentlich so spät? Und das bei einer Komponisten-Biografie im Hintergrund, die selbst roman- oder operntauglich ist. Weder die diffusen Ressentiments in seiner Heimat, noch die ignorierende Arroganz im Westen sind aus heutiger Sicht nachzuvollziehen.

Der in Warschau geborene Jude Weinberg flüchtete mit Zwanzig vor den Nazis in die Sowjetunion. Dort landete er in Stalins GULAG. Dem Schlimmsten entging er nur durch die Fürsprache seines selbst nie ungefährdeten Lehrers und Freundes Dmitri Schostakowitsch, vor allem aber durch Stalins Tod 1953. Er (über-)lebte und blieb in Moskau. Dass er zeitlebens in der Sowjetunion blieb, erklärt seine bescheidene Schattenexistenz als Komponist nur zum Teil. Obwohl der Eiserne Vorhang nie schalldicht war, herrschte auf dessen westlicher Seite eine radikale, dogmatischen Neutönerei. Da hatte es Musik, die aus dem Osten kam, nahezu bruchlos an die spezifisch russische Weiterführung einer spätromantischen Musiktradition anknüpfte und weder auf das große Orchester, das Tonale oder vokale Bögen verzichtete, besonders schwer.

Dieser ausschließende Neuerungseifer gehört zwar längst der Vergangenheit an, gleichwohl ist es immer noch verdienstvoll und überfällig, dass das Theater an der Wien jetzt nicht nur für die österreichische Erstaufführung von Weinbergs „Idiot“ sorgt, sondern das Ganze in die Hände (und Kehlen) von Künstlern legt, bei denen mit einem Höchstmaß von Authentizität gerechnet werden darf. 

So hat der 1942 in Novosibirsk geborene und sogar (wie Weinberg) einst mit Dmitri Schostakowitsch befreundete Dirigent Thomas Sanderling am Pult des ORF-Radio-Symphonieorchesters Wien schon die Mannheimer Uraufführung dirigiert. Eine authentischere und kompetentere Stabführung ist kaum zu haben. Was er aus dem Orchester an dräuender Düsternis, auftrumpfender Dramatik und repetierende Eloquenz für die ausgedehnten Parlandopassagen herausholt, ist schlichtweg atemberaubend. Man darf sicher auch davon ausgehen, dass der Eindruck eines perfekten Idioms bei den russischsprachigen Protagonisten nicht nur deren Herkunft, sondern auch durch die intime Verbindung dieses Dirigenten zur russischen Diktion von Sprache und Musik garantiert und live nicht besser zu haben ist.

Auch bei der hochkarätigen Besetzung kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Dabei imponieren die mühelos tenorale Strahlkraft, die Dmitry Golovnin für seinen zerbrechlich zaudernden Titelhelden (den er schon in der Uraufführung verkörperte) aufbietet, ebenso wie die pure Vitalität, die Dmitry Cheblykov ihm als sein dunkles Pendant Rogoschin entgegensetzt. Atemberaubend sind die lodernde Leidenschaft und intensive vokale Leuchtkraft, mit der Ekaterina Sannikova die widersprüchliche Nastassja und die durchdringende Gradlinigkeit, mit der Ieva Prudnikovaitė ihre Rivalin Aglaja auf die Bühne wuchten. Packendes vokales und darstellerisches Charisma bieten aber auch Petr Sokolov als Lebedjew oder Ksenia Vyaznikova als Generalsgattin Jepantschina und alle anderen. Es ist ein Fest der Stimmen und der Musik – trotz aller akustischen Einschränkungen der Ausweichspielstätte! 

Der Russe Vasily Barkhatov hat sich mit einer Handvoll bemerkenswerter Inszenierungen längst neben seinen Landsmännern Dmitri Tscherniakov und Kirill Serebrennikov im deutschsprachigen Raum etabliert. Zusammen mit Christian Schmidt (Bühne), Stefanie Seitz (Kostüme) und Christian Borchers (Video) findet er in Wien trotz (oder wegen) der beschränkten Möglichkeiten im Museumsquartier einen kongenialen szenischen Zugang. Er bedient sowohl die Erwartungen an die russische Atmosphäre einer Dostojewski-Vorlage, dringt aber auch in die Vielschichtigkeit eines Psychothrillers ein, der über die klassische Konstellation „ein Mann zwischen zwei Frauen“ hinausgeht. Hier wird weniger in gut russischer Dramatikerweise Leben so erzählt, dass wir den Menschen dabei zusehen und uns einfangen lassen können. Hier sehen wir ihnen beim Scheitern zu. Hier ist nicht nur Fürst Myschkin im Hinblick auf ein „richtiges“ Leben gleichsam auf der Durchreise. Hier kommt keiner wirklich dort an.

Die Bühne bringt genau das, metaphorisch kongenial, auf den Punkt: auf der Drehbühne ist ein aufgeschnittener Eisenbahnwaggon platziert. An der Fensterfront zieht (im Video) unablässig eine verschneite Winterlandschaft vorbei. Für Momente flackern dort Bildstörungen auf. Einmal scheint der Waggon im Schnee zu versinken. Ein einschwebender Lüster, eine Tafel, ein Sofa oder eine Kollektion von Betten vor dem Waggon genügen, um die übrigen Schauplätze zu markieren. Einmal finden sich sogar alle Versatzstücke zusammengedrängt in dem Waggon, dann wieder ist er völlig leer. Die transitorische Reisemetaphorik erweist sich als so bühnenpraktisch wie ergiebig. 

Im Waggon begegnen sich der von der Kur in der Schweiz heimkehrende Fürst Myschkin und der der schönen Nastassia verfallene Kaufmann Rogoschin das erste Mal rein zufällig. Und dann immer wieder. Keineswegs zufällig. Das offene, mittlere Eisenbahn-Abteil, in dem sich die Männer immer wieder treffen, ist zugleich ihr jeweiliger Rückzugsort. So wie sie im Wechsel der Szenen hier immer wieder darauf zurückkommen, sind die beiden auf eine untergründige Weise zwar nicht Brüder, wie sie im Laufe ihrer Begegnung behaupten, aber doch ein komplementäres Gegenstück oder Spiegelbild des jeweils anderen. Einerseits der übersensible Myschkin, der auf die Anfechtungen der Welt mit Verzeihen, Güte und dem Willen, zu helfen, reagiert. Andererseits der kraftstrotzende, vitale Draufgänger, der seinen Willen durchzusetzen gewohnt ist, sich aber gleichzeitig immer wieder selbst mit dem Messer ritzt oder seine Hand über die offene Flamme hält. Die beiden – so kann man es diesmal durchaus auch sehen – verbindet (oder trennt) unbewusst womöglich mehr, als ihre schwankende Obsession für Nastassia. 

In Wien gab es einhelligen Beifall für eine großartige Kunstanstrengung, die hoffentlich Folgen hat. 

  • Weitere Vorstellungen: So., 30.04.2023, Mi., 03.05.2023, Fr., 05.05.2023, So., 07.05.2023
  • Mieczysław Weinberg: Der Idiot op. 144 (1986-1989) ÖEA. Oper in 4 Akten nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Dostojewski. Libretto von Alexander Medvedev

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