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Opern-Kritik: Oper Köln – Das Biest im Dschungel

Psychodrama mit großer Musik

(Köln, 14.4.2023) Perfekte Proportion von Gesang, Ausdruck, Spiel und Klang: Die Uraufführung des Boulez- und Berio-Schülers Arnaud Petit wird zum grandiosen Beweis für die Zukunftsfähigkeit der Kunstform Oper.

vonRoland H. Dippel,

Aus zwei Gründen wurde die Uraufführung des Boulez– und Berio-Schülers Arnaud Petit (geboren 1959) im Saal 3 des Kölner Staatenhauses ein mit echter Begeisterung gefeiertes Musiktheater-Glanzstück. Zum einen kamen Partitur und Seelendrama in den weiten Raumdimensionen, wo das farbintensive und mit Elektronik aufgepeppte Gürzenich-Orchester neben dem schwarzen Spielrund saß, zu besserer Wirkung als im Bühnenguckkasten. Zum anderen ist „La bête dans la jungle“ nach Vito Žurajs „Blühen“ an der Oper Frankfurt und Christian Josts „Journey of Hope“ am Grand Théâtre de Genève in diesem Jahr die mindestens dritte Uraufführung, welche eine deutliche Wende des neuen Musiktheaters zu direkter und nicht hinterfragter Emotionalität signalisiert. Vierzig Jahre vergingen von Petits Idee einer Vertonung der 1903 erschienenen Novelle von Henry James bis zur Uraufführung. Vor zehn Jahren war Petits Konzert-Version auf das Textbuch des Dramatikers und Henry-James-Spezialisten Jean Pavans fertig. Kölns GMD François-Xavier Roth, der bereits in seiner Zeit als Flötist mit Petit zusammenarbeitete, entschloss sich zur Uraufführung.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Prosa des Verweigerns

Petit lernte Henry James‘ Erzählung 1981 in der Bühnenbearbeitung von Marguerite Duras kennen. Das Sujet ist deshalb so anrührend, weil nicht Konventionen oder Handicaps der Entstehungszeit die Vereinigung von May und John verhindern. John verbockt sein und Mays Glück selbst, besser sein innerstes Sein. „Das Biest im Dschungel“ schlägt zu, als Selbsterkenntnis sich Bahn bricht und Versäumtes nicht wieder gut zu machen ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit verarbeitete Henry James in der Erzählung seine Beziehung zu der Schriftstellerin Constance Fenimore Wooson, die sich im Alter von 53 Jahren in Venedig aus dem Fenster stürzte und ihrem Leben damit freiwillig ein Ende setzte.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

In der Klangdynastie von Debussy, Messiaen und Dutilleux

Die Zeit von Anna Jones‘ Kostümen ist um 1900, eine Spiegelwand auf Rollen neben den Projektionen ihr wichtigstes und eindrucksvollstes Dekorationsstück. Die Sänger tragen zur besseren Textverständlichkeit Mikroports. Elektronik ist sinnfälliges Hilfsmittel, nicht Selbstzweck. Diese durchdringt und verdichtet die Klangreizungen mit dominierenden Schlaginstrumenten wie Glockenspiel und Vibraphon, die sinnlichen Klarinettensoli und lustvoll gedehnten Streicherflächen. Ohne eklektizistisch zu werden, versteht sich Petit als eigenständiger Spross aus der Klangdynastie von Debussy, Messiaen und Dutilleux. François-Xavier Roth holt das unsentimental aus der Partitur und erzeugt damit ein klares wie suggestives Fluidum. Die Elektronik hat überdies dramaturgische Bedeutung. Sie und die Projektionen mit Bezügen zur Biographie von James und Wooson halten das Nichts an äußerer Handlung in treibender Ambivalenz von Nähe und Distanz. Die Spannung trägt 90 Minuten.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Moderiertes Musikseelendrama

Petit war in der Duras-Bearbeitung fasziniert davon, wie die beiden Schauspieler einfach nur da waren und sich daraus das hochgradig nervöse Reiben der Psychen entwickelte. Regisseur Frederic Wake-Walker ist in seiner Inszenierung von Petits Musikseelendramas auch Showmaster: „Machen Sie es sich bequem.“, sagt er und mahnt das Publikum nach dem obligaten Smartphone-Verbot zur psychischen Entschleunigung, als ob diese bei einem Opernabend nicht mehr selbstverständlich sei. Wake-Walker modelliert eine Regie, die man nicht merkt, und kommt den Figuren so auf eine berührende wie schnörkellose Fasson viel näher als durch szenisches Dauer-Forte und Psycho-Pointilismus.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Unüberwindbare Einsamkeit

Zig Jahre nach ihrer ersten Begegnung nehmen John und May ihren Kontakt wieder auf. Nach außen führen sie das Leben eines Paares. Privat verhindert John, auch wegen seiner Faszination durch junge Männer, eine beidseitige emotionale und erotische Intimität mit May, die ihn liebt. Anders als Constance Fenimore Wooson stirbt May in der Oper an einer tödlichen Krankheit. Sie nimmt das Wissen, was „Das Biest im Dschungel“ für John sein wird, als Geheimnis mit ins Grab. Die Erkenntnis übermannt John erst später mit voller Wucht. Jetzt ist er unüberwindbar einsam – ohne Mays Liebe, die er in seiner Ich-Bezogenheit immer abwehrte und die er auch im Erinnern, so sehr er möchte, nicht erwidern kann. Für die Kölner Uraufführung schufen Petit und Pavans einen Epilog: „Im Verschlingen durch das Biest werden May und John vereinigt.“

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Unendliches Arioso für großartig sensibilisierte Sänger

Dem elektronischen Gurgeln und Raunen, das immer wieder hinter dem sirenenhaften Schönklang brütet, gehört neben harten Akkord-Stößen das Ende der Oper. Die zwei Sängerstimmen ergehen sich in einem unendlichen Konversationsarioso des Andeutens, heimlichen Fragens, unheimlichen Ausweichens und großer Sympathie. Auf den ersten Eindruck ist es wunderbar, wie Petits Musik dem großen Kampf der Psychen, deren Panzern und Weichstellen nachspürt. Da drängt sich der Vergleich mit Bartóks ähnlich aussichtslos endendem Paardrama „Herzog Blaubarts Burg“ auf, in dem ebenfalls ein Erzähler das Scheitern vorwegnimmt.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Petits Musik ist Verdichtung und Versprechen.

Diese Uraufführung ist eine hochwertige Hommage für die fulminanten, grandiosen, intensiven, sensiblen Sängerdarsteller Emily Hindrichs und Miljenko Turk. Sie beide treffen die heiter bis wolkigen Sonnentöne von Mays und Johns nicht endender Seelendämmerung. Die Spielfläche und das Schwarz hinter der Spiegelmauer geben den Stimmen und Körpern viel Raum. Die Textilien überdecken Haut wie die philosophisch geschliffenen Sätze Mays blankes Begehren und Johns kalte Abwehr. Petits Musik ist Verdichtung und Versprechen. Ein geschicktes Konstrukt: Die in der Partitur gesetzten Zwischentexte schaffen neben dem Emotionen-Report Freiräume für Hindrichs und Turk. Diese füllen ihre fordernden Partien mit selbstverständlicher Souveränität und einer Stimmschönheit, durch die das schwer Fassbare fast Deutlichkeit erhält. Wake-Walker geht dazwischen wie ein bescheidener Dozent, der mehr weiß, als er verrät.

Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln
Szenenbild aus „Das Biest im Dschungel“ an der Oper Köln

Explosive Ruhe und leise Magie

Nicht zuletzt gerät die Premiere zum Beweis für die Zukunftsfähigkeit der Kunstform Oper, weil man eine derart explosive Ruhe nur bis zu einem gewissen Punkt am Regiepult vorbereiten und in Theaterbüros planen kann. Diese Uraufführung ist demzufolge wichtig, denn sie nutzt Möglichkeiten der Oper optimal, verspielt deren ästhetisches Potenzial nicht durch Kritik und Zweifel. Ein solches Credo ermöglichte die perfekte Proportion von Gesang, Ausdruck, Spiel und Klang.

Oper Köln
Petit: Das Biest im Dschungel (La bête dans la jungle)

François-Xavier Roth (Leitung), Frederic Wake-Walker (Regie), Anna Jones (Bühne & Kostüme), Nicol Hungsberg (Licht), Geoffrey Layton & Stephan Steinmetz (Dramaturgie), Emily Hindrichs, Miljenko Turk, Frederic Wake-Walker, Gürzenich-Orchester Köln

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