Inszenierte Johannes-Passion an der Stuttgarter Oper

Dreifaltigkeit aus Licht

Ulrich Rasche inszeniert in Stuttgart die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach 

Von Joachim Lange

(Stuttgart, 2. April 2023) Schon, dass die „Johannes-Passion“ von Johann Sebastian Bach am Karfreitag des Jahres 1724 in der Leipziger Nikolaikirche das erste Mal aufgeführt wurde, belegt, dass sie nicht als profanes Theater gedacht war. Doch da eine choreografierte Matthäus-Passion schon vor über vierzig Jahren zu einem Hauptwerk des Hamburger Ballettchefs John Neumeier avancierte, und immer noch auf dem Programm steht, und vor sieben Jahren – auch in Hamburg – Romeo Castellucci eine Performance zu dieser Passionsmusik entwickelt hat, ist dieser Rubikon lange überschritten und kein ernsthafter Einwand mehr.

Was die Fragen ins Zentrum rückt, welchen ästhetischen oder aufklärerischen Mehrwert eine solche Verbindung von sakral gedachter Musik mit einer profanen Bearbeitung für die Bühne an Gewinn erbringen kann.

Warum also nicht die Johannes-Passion mit der Ästhetik von Ulrich Rasche konfrontieren und in Stuttgart auf die Bühne des Opernhauses bringen? Bei der übrigens das hörbare Knacksen der Drehbühne zu sagen schien: wir brauchen die geplante (utopisch teure) Sanierung wirklich….
Was jetzt kurz vor Ostern über die Stuttgarter Bühne ging, war eine milde Version jener Bewegungsmaschinerie, die der Theatermann, der noch am ehesten das Erbe Einar Schleefs lebendig erhält und jetzt auch aufs Musiktheater anwendet, bislang eingesetzt hat. Die Drehbühne spielt ja eigentlich immer mit. Bei Rasche ist sie im Dauerbetrieb, ohne dass da jemand, wegen zu viel an Aufladung, wörtlich oder metaphorisch, von der Scheibe fliegen würde. Aber es gibt diesmal keinerlei aufragende und autonom bewegbare Konstrukte oder gar einen Riesenturm wie für seine Elektra-Installation (in seiner erste Opern-Inszenierung überhaupt) kürzlich in Genf.

Auf der Stuttgarter Erdenscheibe wandelt ein Volk aus Chor und Solisten im Dunkeln und hört allenfalls von Ferne von einem Licht. Und das ist die von Bach vertonte Version der Geschichte vom Ende des Gottes-Sohnes, der sich für den König der Jüden (wie es heisst) hielt, den die aber vom Römer Pilatus kreuzigen lassen wollen. Jesus als ein Fall von Wer-zu-früh-kommt…? Pilatus kommt in der Geschichte, wie sie geschrieben steht und gesungen wird, als eine Art Realpolitiker rüber, der deeskalieren und sich selbst nicht schuldig machen will, aber damit bekanntlich grandios scheitert. Bass-Bariton Andreas Wolf verleiht ihm eine prägnante stimmliche Kontur!

Rasches Grundprinzip, dass Sprache und Gesang nicht nur ein Resultat der Kehle sind, sondern auch eins der Bewegung des gesamten Körpers, ist das Kontinuum des Abends. Sie schreiten mehr oder weniger genau im Rhythmus der Musik. Das erzeugt wie immer bei Rasche einen eigenen Sog. Ganz gleich, ob in der einen Richtung oder in der anderen. Hier sind immer alle in Bewegung.

Der Anfang mit „Herr, unser Herrscher“ wirkt demonstrativ vielstimmig und insgesamt gewaltig.
Rasche verlässt die Abstraktion des Raumes nicht. Sie wird nur durch gelegentlich einschwebende monochrome, riesige Lichtkästen bereichert. In wechselnden Farben und Positionen – ein Hauch von Wilson-Farbspielen in der Dunkelheit der Bühne. Die sparsam eingeblendeten Videos mit Händen fügen sich dann aber doch nicht zu der berühmten betenden Konstellation wie bei Dürer – daran denken darf man, wenn man will. Die kontemplative Stimmung, die sich ausbreitet, lässt das zu. Erzwingt es aber nicht. Ansonsten verlässt sich Rasche auf Lutherischen Klartext, also die Kraft der Worte, verzichtet auf jegliche Symbolik. Keine Dornenkrone, kein Kreuz. Nirgends.

Den Auftritt von Jesus (mit sattem Bass: Shigeo Ishino) begleitet stets eine weiss leuchtende Dreifaltigkeit aus Licht. Seine Anhänger sind hell gekleidet, die Gegner wie zu erwarten dunkel. Von seinem Ende wird – protokollarisch penibel, ganz so wie im referierenden, postdramatischen Als-ob-Theater – berichtet. Und er zieht sich gebückt zurück. Tenor Moritz Kallenberg ist ein eindrucksvoll eloquenter Evangelist, der von Anbeginn zu einem einprägsamen körperlichen Bewegungssound findet. Als reflektierende Einzelstimmen treten Fanie Antonelou (Sopran), Alexandra Urquiola (Alt), Charles Sy (Tenor) und Johannes Kammler (Bariton) aus der Masse des Chors mit ihren Einzelauftritten hervor und ins Licht.

Einen lautlosen Knalleffekt gönnt Rasche dem Publikum und sich als Antwort auf den berühmten Justizmord auf Wunsch der Masse dann doch – metaphorisch von ganz oben, bühnentechnisch aus dem Schnürboden, stürzt lautlos eine Staubwolke herab, die sich langsam im Raum ausbreitet und verzieht. Und von dort mit ein paar übersensiblen Hustern beantwortet wird.

Am Ende, beim „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ sind sie alle wie Anhänger von Jesus hell gekleidet. Und laufen immer noch auf dieser Scheibe, die ihre Welt ist. Fragt sich, ob sie wissen, wohin die Reise geht.
Der Rasche-Effekt, bei dem aus dem chorisch skandierten Wort, Wortmusik wird, der verpufft hier allerdings, weil die Worte schon bei Bach zu Musik geworden sind. Das in den entfesselten Chorpassagen einzufangen und in die Form zu bringen, ist zu Beginn des Abends ein Problem und bleibt es letztlich auch in dessen weiterem Verlauf.

Als der Schweizer Barockspezialist am Pult des Staatsorchesters Diego Fasolis beim Schlussapplaus immer wieder die Partitur von Bach dem Publikum entgegenhielt, war das wohl als Ehrerbietung gemeint, ließe sich aber genauso gut als ein Verweis aufs Eigentliche und eben doch Andere auffassen. Als wirklich zwingend erwies sich dieser Rasche-Bach in Stuttgart jedenfalls nicht.

 

Johannes-Passion
Von: Johann Sebastian Bach

Premiere an der Staatsoper Stuttgart: Sonntag, 2. April 2023

Musikalische Leitung: Diego Fasolis / Christopher Schumann (7. / 29. April)
Regie & Bühne: Ulrich Rasche
Mitarbeit Regie: Dennis Krauß
Mitarbeit Bühne: Franz Dittrich
Kostüme: Sara Schwartz, Romy Springsguth
Choreografie: Toni Jessen
Video: Florian Seufert
Licht: Gerrit Jurda
Chor: Manuel Pujol
Dramaturgie: Franz-Erdmann Meyer-Herder

Besetzung:

Evangelist: Moritz Kallenberg
Jesus: Shigeo Ishino / Paweł Konik (7. / 9. / 14. April)
Petrus/Pilatus: Andreas Wolf
Jesu Gefolgschaft / Sopran: Fanie Antonelou
Jesu Gefolgschaft / Alt: Alexandra Urquiola
Jesu Gefolgschaft / Tenor: Charles Sy
Jesu Gefolgschaft / Bariton: Johannes Kammler / Elliott Carlton Hines (ab 14. April)
Magd, Jesu Ankläger / Sopran: Kyriaki Sirlantzi
Jesu Ankläger / Alt: Linsey Coppens
Diener, Jesu Ankläger / Tenor: Maximilian Vogler
Jesu Ankläger / Bass: Andrew Bogard
Bass: Michael Nagl

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