Die Strauss-Oper „Arabella“ wirkt in der Inszenierung von Tobias Kratzer erst mal dick aufgetragen, weist dann aber klug ins Heute.

Ja, bittschön, was haben wir denn da? Prächtig gerüschte Kostüme, Pomp und Schmäh, die hochherrschaftlichen Kulissen wie aus einem mächtig überzuckerten TV-Mehrteiler über das gute alte k.u.k.-Wien um 1860? Hat Tobias Kratzer etwa den Retro-Stil vom Regie-Uraltmeister Otto Schenk aus dem Staubfänger-Museum exhumiert? Natürlich nicht. Die dick aufgetragene Extra-Portion Annodunnemals im ersten „Arabella“-Akt ist Absicht, um danach klug und weit von dieser Fährte abzubiegen, ins Mehrdeutige und vor allem ins Heutige, aus dieser Epoche unantastbarer gesellschaftlicher Verhaltensregeln ins Diverse weisend.

Kurz nachdem Kratzer als 2025 übernehmender Intendant der Hamburger Staatsoper vorgestellt wurde, arbeitet er sein gut gefülltes Auftragsbuch nach Plan ab. Ein „Ring“ für München ist noch in weiterer Ferne, eine Strauss-Trilogie an der Deutschen Oper Berlin, die um dessen größte Hits einen Bogen macht, startete nun mit der „Arabella“, „Intermezzo“ und „Frau ohne Schatten“ sollen folgen.

Man könnte es sich einfach machen mit diesem Stück, sie als interessant variierten „Rosenkavalier“-Aufguss abhandeln, die durchaus operettenverwandte G’schicht über eine abgebrannte Adelsfamilie, bei der es nur noch zum standesgemäßen Vermählen von einer der zwei Töchter reicht, aufgeschäumt mit Verwirrspielereien und Bilderbuch-Typen wie aus dem Léhar-Fundus geborgt. Ein tolles, geschmeidig fabulierendes Ensemble mit noblen Stimmen, ein stilsicheres, fein abgeschmecktes Strauss-Orchester, ein bisschen Lokalkolorit aus Wiens 1. Bezirk, fertig wäre da eine ziemlich sichere Nummer. Doch ganz so simpel möchte Kratzer es sich und dem Publikum nicht gemacht haben.

Erst mal ein ganz klassischer Strauss, dann wird der Subtext enthüllt

Worum geht’s, ursprünglich jedenfalls? Arabella soll möglichst gewinnbringend unter die Haube – die jüngere Zdenka aber, von den Eltern zu einem Zdenko umetikettiert und mit Kurzhaarschnitt im Anzug ein androgryner Typ, soll sich brav fügen müssen, obwohl sie in einen feschen Offizier verschossen ist, der nur leider deutlich für die andere schwärmt und Zdenko lediglich für einen Busenfreund hält.

So weit, so klassischer reifer Strauss. So genderfluide aber auch wurde diese Chose umgedeutet von Kratzer, der die gängige Betonung des Hofmannsthal-Librettos auf die Titelheldin hin hinterfragt und neu ausbalanciert, weil Zdenka/Zdenko für ihn die vielschichtigere, progressivere, lohnendere Figur ist.

Deswegen wird später verblüffend passgenau aus dem Subtext herausgearbeitet und enthüllt werden können, dass Zdenka und Matteo eindeutig nicht dem Boy-meets-Girl-Klischee entsprechen müssen, sondern sich gegenseitig und füreinander zueinander outen können. Kurz vor dem letztlich schwächeren Finale, das nun mal - die Partitur geht vor - von Arabella und dem Verkünden ihrer großen Liebe bestimmt wird, betreten Zdenka und Matteo die Bühne Arm in Arm, symbolstark gehüllt in die pink-blau-weiße Transgender-Flagge. Soviel nur zum Klischee, die Oper sei doch eh nur subentionierter Eskapismus mit schönen Stimmen.

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Viel Bühnenschwarz und wenig Kostüme gibt es in dieser „Arabella“ von Thomas Kratzer.
Viel Bühnenschwarz und wenig Kostüme gibt es in dieser „Arabella“ von Thomas Kratzer. © Thomas Aurin

Kommt aber alles erst später. Der erste Akt ist – fast – reine Konfektionsware, abgesehen vom Einsatz mehrerer Handkameras. Kratzers Stamm-Bühnenbildner Rainer Sellmaier hat das Tableau dafür mittig zweigeteilt, die Leinwand-Hälfte dieses Splitscreens ist entweder Projektionsfläche für die dort noch nicht weiter sachdienlichen Großaufnahmen. Oder auch nur profaner Sichtschutz, wenn dahinter eine komplette Szenen-Kulisse, oft unschön rumpelnd, auf- oder abgefahren wird.

Die schwer gestrige Geschichte nimmt zunächst ordentlich ihren Lauf, klar werden bereits hier die qualitativen Unterschiede im Ensemble. Von Anfang an leuchtstärkste Stimme des Abends ist Elena Tsagallova als eine Zdenka, die aus jeder Note ein Bekenntnis zu ihrem Ausbruchswillen macht.

Die Sopranistin scherte erst spät in die von Krankmeldungen betroffene Produktion ein

Sara Jakubiak in der eigentlichen Titelrolle sucht zunächst noch nach ihrem Auftritts-Ruhepuls, verständlich, da sie erst kurz vor knapp als inzwischen dritte Arabella in die stark von Krankmeldungen betroffene Produktion einscherte. Russell Braun hatte sich als indisponiert ansagen lassen und behielt damit Recht, Robert Watsons Matteo hörte man mitunter an, dass sein Part kein entspannter Waldspaziergang ist. Charismatisch stark: Doris Soffel als immer weniger gluckende Familien-Mutter Adelaide.

Im zweiten Akt, der einzig auf dem Flur eines klassischen Ballsaals spielt, bleiben die Video-Kameras ausgeschaltet; hier dreht Kratzer ganz analog, aber geschickt an der Plot-Uhr. Während hinter den Saaltüren von der feinen Gesellschaft getanzt wird und die Jahrzehnte wie in einer Zeitmaschine im Minutentakt ablaufen, läuft davor der Erzähl-Strang stringent weiter.

An den Tanzstilen und der Abendgarderobe lässt sich bestens ablesen, wie sehr man sich dem Hier und Jetzt annähert: Charleston, prügelnde Nazis, Wirtschaftswunder-Brillen, Sixties-Looks, Disco-Kugel und Nebelschwaden, knutschende Männer, amtliche Koks-Tütchen, enthemmte Partygäste – die Schere zwischen Original und Deutung öffnet sich immer weiter, Kratzers Blickwinkel, aufs Hier und Jetzt gerichtet, wird immer klarer.

Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34384343. Nächste Termine: 23., 26., 30. März, 1. und 6. April