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Allgegenwärtig ist der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, in der Münchner Inszenierung. Szene mit B. Davronov, M. Paster, S. Kuflyuk und V. Karkacheva.

© Wilfried Hösl

„Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper: Warum bringen die Menschen einander um?

Eine gelungene Provokation: Dmitri Tcherniakov inszeniert, Vladimir Jurowski dirigiert Sergej Prokofjews Tolstoi-Oper „Krieg und Frieden“ in München.

Von Eleonore Büning

Erst gegen Ende dieses vermaledeiten Stücks gibt es den ersten Toten. Soldaten massakrieren Zivilisten. Eines der Opfer, eine kleine Tenor-Rolle, der Mann heißt Iwanow, protestiert: „Nein, nein, nein, ihr könnt mich nicht töten, ihr dürft nicht!“ Und Schuss. Kurze Blechblitze zucken auf im Orchester. Der Nächste bitte.

Das Team rund um den Regisseur Dmitri Tscherniakow hat an dieser Stelle im elften Bild von Sergej Prokofjews Oper „Krieg und Frieden“ die Übertitelung modifiziert. Sie legen dem jungen Iwanow (Alexander Fedorov) eine Frage des Dichters Lew Tolstoi in den Mund: „Warum bringen die Menschen einander um?“ Eine Frage, auf die es nur falsche Antworten gibt.

Selbst Tolstoi, erst Soldat, dann Pazifist, hatte keine parat. Er schrieb bis zu seinem Tod 1910 an gegen Verdummung und Verrohung, Betrug und Selbstbetrug, wie Kriege sie mit sich bringen. 1868 entstand sein epochaler Roman über die Verheerungen, die der Überfall Napoleons auf Russland angerichtet hatte, anno 1812.

Rund hundertdreißig Jahre später, als die deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion einfiel, übermalte der Komponist Sergej Prokofjew diese Story mit einem Patriotismus, der dem von Stalin geprägten Begriff eines „Großen Vaterländischen Kriegs“ entsprach. Ein zerklüftetes, ungefüges Stück ist dabei herausgekommen, es wird nie vollständig aufgeführt.

Man denkt sofort an die Bilder der Flüchtlinge

Auch die Münchner Neuinszenierung verzichtet unter anderem auf den plakativen Schlusschor. Und fügt eine dritte Zeit-Ebene hinzu. Allgegenwärtig ist dieser Krieg, von der ersten Friedens-Sekunde an. Es ist der, den Russland zur Zeit gegen die Ukraine führt.

Dicht gedrängt liegen Schlafende in einem säulengesäumten Saal. Frauen, Männer, Kinder, in heutiger Alltagskleidung, mit Sack und Pack. Das erinnert an aktuelle Nachrichtenbilder, man denkt unwillkürlich an Flüchtlinge oder an die Attrappe des zerstörten Theaters in Mariupol.

Eine provozierende Versuchsanordnung

Erst auf den zweiten Blick erkennt man an den vielen fetten Kronleuchtern, dass wir uns im legendären Moskauer „Haus der Gewerkschaft“ befinden, einem historischen Prachtbau, in dem nicht nur Staatsempfänge stattgefunden haben, sondern auch stalinistische Schauprozesse.

Tscherniakov, Meister der Mehrdeutigkeit, funktioniert diese Überwältigungs-Architektur alsbald um zum Einheitsbühnenbild. Es fasst alle sechzig Solisten plus Chor und Statisterie, alle Stände: Die ganze Welt der Freunde und Feinde. Und gibt Raum für eine provozierende Versuchsanordnung, die ihr eigenes, intensives Narrativ entwickelt.

Allgegenwärtig ist der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, in der Münchner Inszenierung.

© Wilfried Hösl

Manchmal ballt sich eine Gruppe am Rand, schaut hinaus ins Wetterleuchten. Dann hocken wieder alle im Kreis, ermuntern die Akteure, oder verlachen sie. Man übt Erste Hilfe. Oder den Nahkampf. Fällt tot um und steht wieder auf. In den allerletzten Tableaus, als sich das Kriegsgeschehen ins Absurde steigert, beschleunigt sich das Tempo. Die Zeitmaschine rast vorwärts. Kaum ist Napoleon durch, schon taucht eine Leninbüste auf, ein Stehgeiger fidelt und Stalin wird aufgebahrt, in einem Meer roter Nelken.

Die ersten sieben Tableaux allerdings spielen, wie die ersten Kapitel des Romans, noch im Privatleben der feudalen Vorkriegsgesellschaft. Hier wird vor allem viel Zeitung gelesen. Man näht, musiziert, diskutiert. Papierfächer werden gefaltet für den Neujahrsball. 

Wie weiße Tauben in der buntscheckigen Menge

Wann wurde je zuvor ein so gespenstisch verlangsamter Walzer getanzt, wie auf diesem Ball! Zwar, das Bayerische Staatsorchester jubelt, farbenreich vielstimmig legt es sich in die Kurven. Doch auf der Bühne bleibt die Zeit stehen. Die Tanzenden träumen, sie bewegen und berühren sich kaum.

Was bleibt da dem Fürsten Andrej Bolkonski und der Komtess Natascha Rostowa anderes übrig, als sich ineinander zu verlieben, zu ihrem Unglück? Wie zwei weiße Tauben tauchen sie auf aus der buntgescheckten Menge. Wie Runen fliegen ihre Parlandoworte aneinander vorbei. Ihr Sopran: sonnig, kokett, stark, seelenvoll. Sein Bariton: samtwarm, rund, hell, verführerisch. Ein Sängertraumpaar.

Olga Kulchynska (Natascha) kommt aus der Ukraine, Andrej Zhilikhovsky (Andrej) aus Moldavien. Zum Schlussapplaus haben die beiden sich Ukraine-T-Shirts über ihre blutbefleckten Kostüme gezogen. Neben ihnen ist der zu Recht am heftigsten Gefeierte der armenische Tenor Arsen Soghomonyan – eindringlich leuchtend hatte er die Rolle des guten Menschen (alias Graf Pierre Besuchow) mit Leben erfüllt.

Insgesamt sind 12 Nationen vertreten in diesem Cast. Alle sängerisch erste Wahl. Alle gehen darstellerisch an ihre Grenzen. Nicht zuletzt dieser Umstand und die Kompromisslosigkeit, mit der Dirigent Vladimir Jurowski den lyrischen Schönheiten wie auch den martialischen Effekten von Prokofjews Schmerzenspartitur zu ihrem Recht verhilft, machen daraus einen einmalig großen Abend. 

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