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So und nicht anders: Prokofjews „Krieg und Frieden“ an der Bayerischen Staatsoper

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Szene aus „Krieg und Frieden“
Protestfront im naturalistisch nachgebildeten Moskauer Haus der Gewerkschaften (Inszenierung und Bühne: Dmitri Tcherniakov). © Wilfried Hösl

Vor einem Jahr sollte die Produktion noch gekippt werden. Mit Prokofjews „Krieg und Frieden“ ging die Bayerische Staatsoper ein hohes Risiko ein. Was dabei herauskam: eine denkwürdige Premiere.

Ein wenig hofft man noch, dass sie wieder aufstehen. Doch Andrej und Natascha, endlich vereint unter einer blauen Wolldecke am rechten Bühnenrand, sind tatsächlich tot. Und nicht die einzigen Opfer dieses wilden, grotesken Aufstands, der sich richtet – ja, gegen wen überhaupt? Naturalismus, auch Agitprop, das kann bei Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ längst nicht mehr funktionieren.

Wo Vorlagedichter Lew Tolstoi eine tragische Liebesgeschichte genial mit Napoleons Überfall auf Russland verschränkt, driftet die Veroperung in die patriotische Aufwallung. Es war, wenn man so will, Prokofjews Pech, dass Hitler sich als Wiedergeburt eines kleinen Korsen fühlte – und die Herrscher des Sowjetreichs von der Kunst eine entsprechende, pathetische Beantwortung des deutschen Angriffs erwarteten.

Zum Prädikat „letztgültig“ hat es bei „Krieg und Frieden“ nicht gereicht. Die Uraufführung 1959 in Moskau, sechs Jahre nach Prokofjews Tod, ist eher als Director’s Cut einzuordnen. Vier Fassungen gibt es. Und wer weiß, was noch geworden wäre: ein, zwei Bilder weniger? Eine Straffung und Glättung? Oder, angesichts des heraufdämmernden Ost-West-Konflikts, sogar ein weiterer patriotischer Schub?

Alles spielt im Moskauer Haus der Gewerkschaften

Alles das spielt der Bayerischen Staatsoper letztlich in die Hände. Vor einem Jahr, nach dem Angriff auf die Ukraine, wollte man das Giga-Projekt kippen. Jetzt nutzt Regisseur und Bühnenbildner Dmitri Tcherniakov den Zweiteiler als Ideen- und Stoffsammlung. Sein Kunstgriff: Er verfrachtet das Werk ins bis aufs letzte neokorinthische Säulenkapitell nachgepuzzelte Moskauer Haus der Gewerkschaften. Ein Brenn- und Konzentrationspunkt russischer und sowjetischer Geschichte. Blaublüter feierten dort ihre Bälle, Konzerte wurden gegeben und Staatsführer aufgebahrt, zuletzt 2022 Gorbatschow.

Nun hausen hier Gestrandete, Schutzsuchende. Im Geist Versehrte, die sich erinnern und eine alte Geschichte, womöglich auch das umkämpfte Draußen, vergegenwärtigen. Eine Gesellschaft erzählt sich selbst etwas: Zugegeben, das Konzept hat einen Bart. Bei Tcherniakovs Prokofjew-Variante führt das (wie oft bei ihm) zu fein choreografierten, intimen Momenten, im ersten, dem „Liebes-Teil“, aber auch zu Problemen.

Tolstoi und Prokofjew dachten sich ihren Bilderbogen als Schlaglichtfolge (Handlung am Ende des Textes). Mit seinem Einheitsraum, in dem sich die Aktionen zunehmend um sich selbst und auch ins Leere drehen, entgeht Tcherniakov nämlich einiges. Die Regie zwingt zusammen, was nicht zusammengehört. Fallhöhen, Standesunterschiede – alles wird nivelliert. Und doch wächst mit zunehmender Premierendauer die Erkenntnis: Das Setting könnte eine der wenigen Möglichkeiten sein, „Krieg und Frieden“ heute klug und akzeptabel auf die Bühne zu bringen. Auch wenn diese Aufführung über weite Strecken so wirkt, als müsse man Prokofjew vor sich selbst in Schutz nehmen.

Kriegsspiel wird zum Kampf aller gegen alle

Zwingender wird es im Kriegsteil. Für den feierten Tcherniakov und Dirigent Vladimir Jurowski eine Rotstift-Orgie. Alles, was problematisch ist, wurde gestrichen, besonders Chöre. Im letzten, beunruhigend patriotischen, ersetzt eine Bläser-Banda den Text. Feldmarschall Kutusow, zentrale Identifikationsfigur fürs Militär, schnurrt aufs Zitat und einen feisten Popanz zusammen. Dmitry Ulyanov singt ihn wenigstens mit gebieterischem Bass.

Was sich anfangs zwischen Wehrsportübung und Erste-Hilfe-Kurs bewegt, kippt bald (besonders mit dem Auftritt eines ADHS-Napoleons) in die Karikatur, später in den Kampf aller gegen alle. Ein Volk wendet sich gegen sich selbst. Das Kriegsspiel wird im Prunkraum zum sarkastischen, blutigen, nihilistischen Ernst. Virtuos durchgeführt ist das im kleinen wie im Massenmoment. Die Szenerie entpuppt sich spätestens jetzt als klassische Verfremdung: In solchen Überdrehungen ist Tcherniakov ohnehin immer besser, Realismus funktioniert in seinen Regie-Arbeiten nur bedingt.

Zum einhelligen Erfolg gehört aber auch ein Dirigent wie Vladimir Jurowski. Man spürt in jedem Takt, wie sehr er sich als Anwalt der Partitur fühlt. Anfangs fasst er sie mit dem Bayerischen Staatsorchester behutsam an. Prokofjews Musik entfaltet da ihren ganzen Zartbitter-Charme und eine ungeahnte Leichtigkeit. Der Kriegsteil geht später dann in den Bauch. Doch immer ist alles kontrollierte Drastik. Nichts klingt überwürzt. Jurowski gibt den souveränen Musikheerführer, der lichtet, hervorhebt, ordnet und an einigen Stellen auch kleine Unfälle regeln muss – verschmerzbar bei diesem Monsterstück.

Olga Kulchynska und Andrei Zhilikhovsky
Liebe zwischen Schutzsuchenden: Natascha (Olga Kulchynska) und Andrej (Andrei Zhilikhovsky) . © Wilfried Hösl

Besonders aber ist Jurowski dicht bei den Sängerinnen und Sängern. Die danken es ihm: eine im Doppelsinn Riesenbesetzung ohne Ausfälle und mit starken Charakterköpfen. Ob Violeta Urmana als Marja, Sergei Leiferkus als alter Bolkonski, Alexandra Yangel als Sonja, Kevin Conners in mehreren Rollen – unmöglich, alle zu würdigen. Das Ensemble gruppiert sich um ein phänomenales Trio. Olga Kulchynska singt die Natascha mit mühelos aufblühender Lyrik, eine Stimme, an der sich der gesamte Abend zu wärmen scheint. Andrei Zhilikhovsky macht mit virilem, dramatisch hochgepegeltem Bariton das Zerrissene Andrejs deutlich (hier ein Interview). Es ist eine Studie, die sich aus der Verhaltenheit entwickelt und diese Figur zum russischen Bruder Wozzecks macht. Dass Besuchow schon bei Tolstoi die facettenreichste Gestalt ist, wird bei Arsen Soghomonyan sehr deutlich, er nutzt das mit biegsamem, dunklem Tenor-Metall.

Was für ein Risiko also – und was für ein Erfolg. Auf dem Nationaltheater weht die blau-gelbe Flagge, Zhilikhovsky und Kulychynska nehmen in Ukraine-Shirts den Jubel entgegen. Keinerlei Missfallenskundgebung, in der Generalprobe hatte es Zwischenrufe gegeben. Dabei ist der Abend so stark, gerade weil er trotz Griff in die russische Zitate-Kiste einen gedanklich wegführt von Kiew und Moskau zu den anderen Gräuelorten. Im Grunde also das Beste, was Prokofjew passieren konnte.

Die Handlung:
Fürst Andrej Bolkonski verliebt sich in Natascha. Doch sein Vater ist gegen die Ehe. Anatol Kuragin macht Natascha Avancen, eine Flucht scheitert. Pierre Besuchow, Andrejs Freund, erzählt Natascha, dass Anatol verheiratet ist. Als Napoleons Armee Russland überfällt, müssen die Männer in den Krieg ziehen. Die Moskauer zünden ihre Stadt an. Andrej wird verwundet, Natascha bittet den Sterbenden um Vergebung.

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