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Atwoods „Oryx and Crake“ als Oper: Die vom Menschen befreite Erde

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Der Müll ist noch da, schön ist es nicht. Im Baum: Snowman, der als einziger Mensch weit und breit überlebt hat. Foto: Karl und Monika Forster
Der Müll ist noch da, schön ist es nicht. Im Baum: Snowman, der als einziger Mensch weit und breit überlebt hat. Foto: Karl und Monika Forster © Karl und Monika Forster

Ein Sci-Fi-Krimi: Die Margaret-Atwood-Oper „Oryx and Crake“ von Søren Nils Eichberg in Wiesbaden uraufgeführt.

Margaret Atwoods Science-Fiction-Roman „Oryx and Crake“ ist 20 Jahre alt, der Hellsichtigkeit der Autorin stellte sich allerdings beharrlich die verbreitete Ignoranz entgegen. Sagen wir nicht, wir seien nicht gewarnt worden. Atwood schildert eine durch Umweltzerstörung und Klimakatastrophe nur mehr schwer bewohnbare Welt. Und sie lässt eine der Hauptfiguren, Crake, zu einem radikalen Mittel greifen, um die Erdkugel aus dem fatalen Klammergriff des winzigen, aber hochaktiven Homo sapiens zu befreien: Eine im Labor hergestellte Superseuche rafft die Menschheit zügig dahin.

Die wenigen Überlebenden sind zu vernachlässigen. Stattdessen soll eine pazifizierte und vegan lebende neue Gattung – nach ihrem Schöpfer „Craker“ genannt – es bescheidener und besser machen. Noch ist mit den jungen Wesen nicht viel los, aber das muss nicht so bleiben. Die Aufgabe des Überlebenden Snowman, unfreiwillig übernommen, besteht darin, sie zu bilden und ihnen – es ist ein klassischer Atwood-Roman – eine Mythologie und Kultur zu vermitteln. Die Sehnsucht der Craker nach Geschichten ist enorm und Snowman ein großer Erzähler (Mythenkonstrukteur, Lügner) vor dem Herrn. Was er zu bieten hat, sprengt die quantitativen Möglichkeiten eines Opernlibrettos bei weitem.

Das mag ein Grund dafür sein, weshalb die Handlung von „Oryx und Crake“ auf der Bühne ein wenig eindimensional wirkt. Viel Text musste die Librettistin Hannah Dübgen hergeben, um überhaupt die Ausgangssituation plastisch zu machen: Warum und wie konnte das alles passieren? Atmosphärisch ist die postapokalyptische Welt hingegen stets und auch hier wieder eine perfekte Grundlage für das Musiktheater, das mit und ohne Menschen schon immer zuständig gewesen ist für Tristesse und Graus jeglicher Couleur.

Der deutsch-dänische Komponist Søren Nils Eichberg, Jahrgang 1973, hat für das Staatstheater Wiesbaden zuvor die Oper „Schönerland“ geschrieben, in der es 2017 um die Situation von Geflüchteten ging. Das war ein noch triftigerer Beleg dafür, dass es kein Thema gibt, für das sich das Musiktheater nicht eignen würde.

Das Ende der Zeiten gehört zu den Kernkompetenzen von Musik. „Oryx and Crake“, ebenfalls eine Auftragsarbeit für das Staatstheater, bietet finstere, aber nicht unzugängliche Klänge vom ersten dräuenden Ton an. Klassische Orchesterinstrumente werden mit Elektronik kombiniert, das wirkt über weite Strecken tonal, teils vertrackt, teil sphärisch, es gibt süße Streichermelodien, leitmotivische Elemente, tanzbare Momente, veritablen Operngesang (in englischer Sprache). Es gibt keine Berührungsängste zur Verve von Filmmusik.

Dazu passt, dass die drastisch hochliegende Partie von Oryx – Anastasiya Taratorkina wird blendend fertig damit – zunächst einen geisterhaften Auftritt wie Korngolds Marie in der „Toten Stadt“ bekommt. Die Elektronik grätscht rein als Störfaktor und Irritation, aber nicht brutal. Melancholie ist die Grundstimmung. Es ist ja alles schon vorbei, und das Neue zeigt sich auf der Bühne nicht, wird lediglich in Astrid Steiners prächtigen Videos illustriert: die Flora kehrt zurück mit Blüten und Pilzen, die Fauna mit munter herumspringenden, aber giftgrünen Häschen. In Ton und Videobild wird die Kitschgrenze geschrammt, nicht überschritten.

Der Mangel an Entwicklung im Geschehen – wo es, wie gesagt, vornehmlich darum geht, sich zu orientieren – spiegelt sich insofern auch in Eichbergs Klangwelt, die zuweilen wie eine große Installation wirkt, in sich schillernd, aber doch statisch. Regisseurin und Bühnenbildnerin Daniela Kerck lässt einen gewaltigen kahlen Ast für Snowman hereinragen (der Überlebende, vormals Jimmy, muss sich nachts vor gefährlichen Mischwesen auf den Baum zurückziehen), alles andere, ein Fluss, eine Skyline, bleibt diffus. Wie die Craker: eine von Rosana Ribeiro zärtlich choreografierte Schar in dunklen Ganzkörperstrümpfen (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer), Strichwesen, zwischen denen sich einige Solostimmen verbergen und die aus dem Off vom Chor gesungen werden. Snowman ist Benjamin Russell, dessen stabiler Bariton zu den guten Nerven des resignierten, aber präsenten Erzählers passt. Alle übrigen Menschen sind Erinnerung, Kerck lässt sie in den jeweils kurzen Szenen im schemenhaften Halbdunkel: Jimmy war einmal der irrelevantere Teil eines Freundschaftsdreiecks mit der klugen Oryx und dem genialen und maßlosen Forscher Crake, Christopher Bolduc.

Dass Crake gedoppelt, Jimmy/Snowman verdreifacht wird – mit dem Tenor Samuel Levine als jungem Jimmy, bis hin zu zwei Knabenstimmen für die beiden Freunde als Kinder –, vergrößert das Spektrum der sanglichen Möglichkeiten. Man muss aber auch gut aufpassen. Jimmys Mutter, Fleuranne Brockway mit ihrem weichen, expressiven Mezzosopran, bleibt dramaturgisch merkwürdig unangebunden.

Albert Horne dirigiert mit Übersicht. Das Publikum ist ordentlich begeistert. Das neue Musiktheater lebt und funktioniert, wenn es sich anschlussfähig zeigt. Und eine Chance bekommt.

Staatstheater Wiesbaden: 1., 11., 23., 31. März. www.staatstheater-wiesbaden.de

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