„Zar Saltan“ in Hannover :
Hörend eine Welt erschaffen

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Ein schönes Paar: Sarah Brady (links) als Schwanenprinzessin, José Simerilla Romero als Fürst Gwidon
Musikalisch erlesen und szenisch liebevoll: „Das Märchen vom Zaren Saltan“ von Nikolaj Rimski-Korsakow an der Staatsoper Hannover ist eine Huldigung an das Erzählen, die Phantasie und die Schönheit von Puschkins Versen.

Anmutig und durchtrieben, arglos und schadenfroh zugleich ist das Russisch von Alexander Puschkins Versen in seinem „Märchen vom Zaren Saltan“. Es kommt leichtfüßig daher und hat es doch faustdick zwischen den Silben. Die klassisch gewordene deutsche Nachdichtung durch Friedrich von Bodenstedt bringt, richtig vorgelesen, auch hierzulande noch Kinderbäuche zum Wackeln vor Lachen bei Versen wie diesen: „Einen Boten, einen raschen, / Schickt sie froh zu überraschen / Ihren Zaren. Doch die beiden / Schwestern, die ihr Glück beneiden, / Mit der Base Babariche / Sinnen sie auf arge Schliche“. Und so tauschen die Schwestern, Weberin und Köchin, angestiftet von Babaricha, den Brief der jungen Zarin Militrissa an den Zaren Saltan im Kriegslager aus: „Deine Zarin hat geboren, / Doch Gott weiß, was Dir erkoren, / ’s ist kein Spross für Deinen Thron, / Keine Tochter und kein Sohn – / ’s ist nicht Frosch und ist nicht Maus: / Sieht fast wie ein Untier aus“. Das Unheil nimmt seinen Lauf, wandelt sich aber, so muss das im Märchen sein, in lauter Heil.

Die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr hat sich an der Staatsoper Hannover die im Jahr 1900 von Nikolaj Rimski-Korsakow vollendete Opernversion von Puschkins Stoff vorgenommen, in Erzählung und Orchestration eine weitere Glanzleistung auf dem Gebiet der Märchenoper, die Rimski-Korsakow als Genre ohnehin perfektioniert hatte. Höckmayr beginnt das Spiel schon mit dem Einlass des Publikums: Ein altes Magnettonband läuft; die Figuren der Oper, von Andy Besuch ganz glanzlos heutig kostümiert, sitzen bereits darum herum und lauschen den originalen Versen Puschkins, den vierhebigen Trochäen, den Reimen, in melodiösem Puls rezitiert von einer jugendlichen Baritonstimme. Und aus dem Hören erschafft die Phantasie ihre Bilder von der Spinnstube im tiefen Winter, von der sagenhaften Stadt im Inselreich Bujan, vom Eichhörnchen, das goldene Nüsse knackt und smaragdene Kerne beiseite sortiert oder von der schönen Schwanenprinzessin. Die Bühne von Julia Rösler kommt mit wenigen Requisiten aus, mit einem Thron und einem Reifrock, und mit wenigen Wänden zur Ein- oder Entgrenzung. Das ist alles. Spiel, Geste, Zu- und Abwendung, staunende, traurige, gehässige Gesichter erzählen das Übrige, besonders eindringlich am Ende des ersten Aktes, wenn Militrissa und ihr Sohn Gwidon in ein Fass gesteckt und auf dem Meer ausgesetzt werden: Der Chor der Staatsoper Hannover, von Lorenzo Da Rio einstudiert, erstarrt in kollektivem Entsetzen über die Willkür des Zaren. Doch Empörung bleibt durch Angst gelähmt.

Höckmayr huldigt der Kraft des Erzählens und Hörens, der Phantasie und – zwischen die einzelnen Bilder der Oper eingefügt – der Schönheit von Puschkins originalem Russisch, wie es Andrea Breth vor mehr als zwanzig Jahren mit ihrer Inszenierung von Anton Tschechows „Onkel Wanja“ an der Berliner Schaubühne tat. Dass heute, in Zeiten des russischen Krieges gegen die Ukraine, der Widerstand des zivilisierten Teils der Menschheit Putin und nicht Puschkin zu gelten habe, hatte Deniz Yücel frühzeitig formuliert. Und Rimski-Korsakow, der wegen seiner Unterstützung für die revolutionären Studenten 1905 seinen Posten als Rektor des Sankt Petersburger Konservatoriums verloren hatte und dessen Vater bereits als Gouverneur von Wolhynien durch den Zaren abberufen worden war, weil er zu liberal mit Juden und Polen umgegangen war, kommt ohnehin aus einer Familie, deren Haltung ganz sympathisch ist. Sonst trennte der Komponist zwischen Kunst und Politik scharf. Er selbst war ein Anhänger der Aufklärung und antiklerikal eingestellt, liebte aber „alles Übernatürliche, Phantastische oder auch hinter der Todesgrenze Liegende“ in der Kunst am meisten.

Seine Meisterschaft besteht darin, Illusionen durch übersteigerte Künstlichkeit, oft in der glitzernden Orchestration, als solche kenntlich zu machen. Immer mehr Regisseure entdecken – die überragende Inszenierung der „Nacht vor Weihnachten“ an der Oper Frankfurt durch Christof Loy hat da Maßstäbe gesetzt – den besonderen Reiz dieser Märchenopern, die Illusionstheater und episches Theater mit größter handwerklicher und gedanklicher Brillanz verbinden.

Der neue Erste Kapellmeister in Hannover, James Hendry, liebt die zackige Geste und die herrische Pose. Aber seine Lesart der Partitur ist eine hinreißend lyrische: Es geht vergleichsweise langsam und leise, aber niemals spannungsfrei zu. Wenn der Chor oder einer der Solisten gelegentlich den Anschluss zu verlieren droht, fängt Hendry ihn souverän innerhalb von zwei, drei Achteln wieder ein. Die Singenden fühlen sich hörbar wohl.

Laura Berman, mitten in der Corona-Pandemie als neue Intendantin angetreten, kann stolz sein auf das prächtige Ensemble. Beatriz Miranda als Tkatschicha, Ketevan Chuntishvili als Powaricha und Barno Ismatullaeva als Militrissa singen mit einer jugendlichen Zartheit und Tonschönheit, wie man sie auch in der aktuellen Produktion des Petersburger Mariinsky-Theaters – leicht auf Youtube einsehbar – nicht antrifft. Dass sich die generös verströmte Wärme von Ismatullaevas Sopran im Timbre dann doch unterscheidet vom geradezu überirdischen Silberglanz der Sopranistin Sarah Brady als Schwanenprinzessin, beweist, dass die Besetzungsdirektion in Hannover exzellente Ohren besitzt. Der zarte, weiche Bass von Daniel Miroslaw als Saltan und der blühende Tenor von José Simerilla Romero als Gwidon sind ebenso ein Genuss wie Yannick Spanier als gutmütiger Narr und Sunnyboy Dladla als visionärer Alter. Monika Walerowicz als Barbaricha lässt großartig die Tiefen ihres Alts knarzen. Das Publikum im proppenvollen Saal applaudiert bis zur Ausgelassenheit.