Verdis „Ernani“ in Gent :
Gesang, der Ehrfurcht abverlangt

Von Anja-Rosa Thöming
Lesezeit: 4 Min.
Großartiger Antiheld: Vincenzo Costanzo als Ernani.
Je grotesker und origineller, desto besser: Giuseppe Verdis Oper „Ernani“ nach Victor Hugo sprengt die Regeln des klassischen Dramas. An der Flandrischen Oper Gent wirkt sie besonders durch die Sänger.

Der Schauspieler Johan Leysen, elegant, mit weißem Haar, führt durch den Abend. Mit spielerischer, durchgeschmeckter niederländischer Prosa — in ihr sinnt der Autor Peter Verhelst dem Duft von Zitronen nach oder dem Wunsch, sich von Grund auf zu ändern — verschafft er willkommene Atempausen, wo Musik und Drama die Zuhö­rerin mit ihrer Intensität zuweilen bedrängen mögen. Wenngleich genau dies vom Komponisten beabsichtigt war: „Kürze und Erhabenheit!“ verlangte Giuseppe Verdi von Francesco Maria Piave, seinem dauerhaftesten künstlerischen Mitarbeiter bei der Entwicklung eines Operntextes.

1844 vertonte Verdi Piaves Libretto „Ernani“ nach Victor Hugos Drama „Hernani“ um kastilische Ehre. Mit ihm hatte Hugo die klassischen Normen des französischen Sprechtheaters gesprengt, was zu Verbalkämpfen zwischen dem Parkett (Traditionalisten) und den Rängen (Reformer) führte. Spektakulär ignorierte er die jahrhundertelang postulierte „Einheit des Or­tes“ und schwenkte vom Schauplatz in Spanien zum Grabmal Karls des Großen in Aachen und wieder zurück; die „Einheit der Zeit“ war dadurch auch nicht mehr gegeben. „Vulkanische Leidenschaften, wilder Rachedurst, verzehrende Liebe, noble Hingabe — Hugos Stück wirkt absurd auf die einen, sublim auf die anderen und aufsehenerregend für jeden“, resümierte Hector Berlioz nach der tumultuösen Premiere des Schauspiels.

Genau dieses Nebeneinander der emotionalen Gegensätze interessierte Verdi: je grotesker und origineller, desto besser. In den wenig später komponierten berühmteren Opern „Macbeth“ (nach Shakespeare) und „Rigoletto“ (nach Victor Hugo) verfolgte er zusammen mit Piave diese Linie weiter. Die anrührenden kantablen Arien seiner Protagonisten wirken gerade deshalb so intensiv, weil sie direkt neben fast ungehobelten, auch grell auftrumpfenden Musiknummern stehen. Die scharf umrissenen Konturen der Szenen erinnern an die Ästhetik von Comicstrips oder harter Filmschnitte.

Im flandrischen „Ernani“ kommt es einmal zu einer comicähnlichen optischen Einstellung, wenn der aufbrausende Ernani und seine Geliebte, El­vira, im Konflikt sind: „Du bist un­treu!“ — „Du bist grausam!“; er sitzt in einem blau ausgeleuchteten kleinen Küchenkasten, sie steht daneben in ei­nem roten und trocknet Gläser. Drama und Versöhnung in der Küche — das hat selbstironischen Humor, besonders wenn die farbigen Kabäuschen langsam auseinanderdriften, weil die verbotene Liebe leider vom rechtmäßigen Bräutigam entdeckt wird.

Nur mit starken Bildern lässt sich aber noch keine Story entwickeln. Die Regisseurin Barbora Horáková Joly erzählt vom traumatisierten Outcast Ernani. Er sieht sich von Gewalt umgeben, die auch seine Liebe zu Elvira an­greift. Gegen zwei mächtige Rivalen kommt er mit seinem Häuflein an leidenschaftlichen Banditen nicht an. Dass der Darsteller des Ernani Wolodymyr Selenskyj ähnelt, mag Zufall sein, ungewollt ist es ganz sicher nicht.

Großartige Sopranistin

Es ist lohnend, den Helden als Antihelden auszuleuchten; ein solch faszinierender Farbwechsel gelingt dem ukrainischen Tenor Denis Pivnitskyi, wenn er seine letzte traurige Arie „Solingo, errante, misero (Einsam, umherirrend, elend)“ nicht schluchzend, sondern mit Wut im Bauch anstimmt. Die großartige Sopranistin Sandra Janušaitė hat eine wahrhaft schwere Spinto-Partie zu absolvieren, die lyrischen Schmelz mit Koloraturen und dramatischer Attacke verbinden muss. Allein die Größe der sängerischen Aufgabe sollte bei den leitenden Köpfen der Produktion Ehrfurcht auslösen, wenn dieser altmodische Aus­druck erlaubt ist.

Die arme Elvira wird jedoch von ihrem ersten Auftritt an des vernünf­tigen Handelns beraubt — dabei hat sie wohl mehr Vernunft im Leib als die Männer um sie herum. Als gefangene Puppe wird sie aus dem Schnürboden herabgelassen, steigt dann umstandslos aus und singt die energiegeladene Cabaletta „Ernani, involami! (Ernani, flieh mit mir)“ wie in einem beschwipsten Zustand. Danach muss sie viel an ihren männlichen Kollegen herabrutschen und klischeehaft auf Knien liegen. Dass Frauen im sechzehnten Jahrhundert — „Ernani“ spielt 1519 — keine Macht hatten, bedeutet nicht, dass sie nicht erfolgreich kämpfen konnten, wie schon Hilary Mantel in ihrer Tudor-Trilogie gezeigt hat.

Durch die Dekonstruktion des ge­schichtlichen Settings bleibt wenig üb­rig; den Monarchen erkennt man nur daran, dass er einen Turtleneck-Pul­lover trägt und kein zerfetztes Unterhemd wie Ernani. Doch wenn man als Zuschauer nicht begreift, dass zum spanischen Ehrenkodex das Gastrecht ge­hörte, bleibt unverständlich, warum Don Silva (mit ausschwingendem Bass der beste Sänger des Abends: Andreas Bauer Kanabas) seinen Nebenbuhler nicht einfach in seinem Haus erledigt; dann wäre das Drama im zweiten Akt zu Ende. Solche Tricks täuschen das Publikum ebenso wie die Striche im Aachen-Akt. Dieser hat als besondere Farbe die düstere Kontemplation Carlos (Ernesto Petti) in der Gruft seines Vorfahren und bewirkt einen fun­damentalen Sinneswandel hin zur „Clemenza“ (Güte), wie dieser Akt überschrieben ist. Das wunderbare So­lo der Bassklarinette, das Carlos in­nere Wandlung einleitet, geht leider unter.

Auch die Dirigentin Julia Jones misstraut dem Verdi’schen Konzept der Oper, die sie als „dramatischen Dinosaurier mit wunderbarer Musik“ be­zeichnet. Schade, denn als Erlebnis ist „Ernani“ kurzweilig und erhebend, zu­mal in dem hübschen, original klassizistischen Opernhaus in Gent.