Blue klingt beim ersten Hören unschuldig, die Oper, die sich dahinter verbirgt hat es aber in sich. Nicht nur wegen ihrer Aktualität – es geht um die US-amerikanische Polizei und die unzähligen Festnahmen von Afroamerikanern mit tödlichem Ausgang –, sondern auch wegen der Intensität, mit der in dieser Tragödie griechischen Ausmaßes Familienglück, Tod und Trauerarbeit inszeniert wird.

Loading image...
Aundi Marie Moore (Mutter) mit Rehanna Thelwell, Thembinkosi Magagula und Vuvu Mpofu (Freundinnen)
© Clärchen and Matthias Baus | Dutch National Opera

Jeanine Tesori komponierte Blue 2019 im Auftrag des New Yorker Glimmerglass Festival auf ein Libretto von Tazewell Thompson, der an der Dutch National Opera in Amsterdam auch die Regie führte. In enger Zusammenarbeit zwischen den beiden entstand ein ergreifendes Musikdrama auf ein Kaleidoskop von amerikanischen Musikstilen: Gershwins berühmtes Klarinettensolo und Bernsteins aufpeitschende symphonische Tanzrhythmen kamen ebenso vorbei, wie Gospelchöre und Rap. Aus ihrem großen Instrumentarium holten die zwei ausgezeichneten Schlagzeuger auch Kochtopfklänge, die die heilende Kraft des afro-amerikanischen Soulfood musikalisch untermalten. Aber auch zeitgenössischere Klänge, wie Glissandi aus dem Inneren des Orchesterklaviers gehören zur musikalischen Sprache von Tresoris fünfter Oper.

Loading image...
Kenneth Kellogg (Vater) und Aundi Marie Moore (Mutter)
© Clärchen and Matthias Baus | Dutch National Opera

Die Handlung ist messerscharf konzipiert und entfaltet sich wie ein Fernsehkrimi: Ein junger Polizist wird Vater. Der Sohn entwickelt sich zu einem gesellschaftlich engagierten Studenten, der die Berufswahl seines Vaters in Frage stellt und dessen Ratschläge, sich als farbiger Jugendlicher auf der Straße vorsichtig zu verhalten, in den Wind schlägt. Vater und Sohn raufen sich (in der letzten Szene vor der Pause) zusammen und kurz darauf wird der junge Mann bei einer Demonstration von einem Polizisten erschossen. Mutter und Vater durchlaufen jeder für sich die Stadien der Schmerz- und Verlustbewältigung. Gemeinsam mit Freunden und der Kirchengemeinde nehmen sie Abschied von ihrem Kind, bevor die Oper mit Erinnerungsrückblenden auf das gemeinsame Familienleben melancholisch-friedlich endet.

Loading image...
Kenneth Kellogg (Vater) und Darius Gillard (Sohn)
© Clärchen and Matthias Baus | Dutch National Opera

Das außergewöhnlich gute Sängerensemble trug diese aussagekräftige Opernvorstellung bei ihrer europäischen Premiere. Kenneth Kellogg spielte als Vater und Polizist überzeugend die komplizierte Hauptrolle. Seine Bassstimme ist farbenreich und angenehm warm, wurde jedoch ab und zu vom Orchester überstrahlt. Tenor Darius Gillard verkörperte den 16-jährigen Sohn mit jugendlichem Charme. Sowohl die schnell wechselnden rhythmischen Elemente seiner Partie als auch der Streit und die anschließende emotionsgeladene Versöhnung mit seinem Vater lebten von seinem schauspielerischen und gesangstechnischen Talent.

Aundi Marie Moore machte mit ihrer Rolle als Mutter die größte Entwicklung durch. Von der unsicheren werdenden Mutter im Kreise ihrer Freundinnen, zur überglücklichen Mutter und Geschäftsfrau mit eigenem Soulfoodrestaurant bis hin zur apathisch Trauernden, die ihren Sohn Gott mit denselben Worten anvertraut, mit dem sie ihren Säugling zu Beginn ihrem Mann in die Arme legte. In jeder Szene stimmt Mimik und Körpersprache und sitzt jeder Ton ihrer farbenprächtigen Sopranstimme goldrichtig.

Loading image...
Aundi Marie Moore (Mutter)
© Clärchen and Matthias Baus | Dutch National Opera

Das Residentie Orchester aus Den Haag swingte in den Chornummern und war prägnant akkurat in den schnellen Rhythmus- und Stimmungswechseln dank der präzisen und schwungvollen Leitung von Kwamé Ryan.

Glücklicherweise endet Blue nicht mit dem Amen in der Kirche. Die darauf folgende Rückblende auf das noch intakte Familienleben war voller Humor und Versöhnung und befähigte das Publikum, wieder einigermaßen gefasst den Opernsaal verlassen zu können. Was für ein gefühlvoller Opernabend!

****1