Kann allein Gandhi eine inzwischen im Misskredit gelangte Indien-Oper retten? Er versucht es, stumm, seine berühmten pazifistischen Sinnsprüche werden projiziert. Was freilich gar nicht nötig gewesen wäre.
Denn lange vor dem Ende von Leo Delibes „Lakmé“ merkt man: Erstens ist diese Oper gar nicht so doof. Und zweitens rettet sie gerade in Zeiten der Cancel Culture nicht nur die qualitätsvoll unterhaltende Musik, sondern durchaus auch die intelligent vielschichtige, optisch wie klangliche Umsetzung. Und das, seltener Fall bei diesem heute raren Werk, in Berlin, Paris und Lüttich gleich an drei Spieltagen in Folge…
„Lakmé“ wird inzwischen – ähnlich wie „La Bajadère“, das Sari-Ballett von Maurice Petipa und Ludwig Minkus – als prototypisch oberflächliche Indien-Oper des besonders übel beleumundeten 19. Jahrhunderts nur mehr mit spitzen Fingern angefasst. Vermutlich 2012 hat die 1883 uraufgeführte sinnlich duftende „Lakmé“ letztmals ihr fantastisches Patschuliparfüm an einem größeren deutschen Haus wehen lassen. An der Oper Bonn.
Delibes‘ handlungsmäßig einfaches Singspiel über eine sehr junge Brahmanin, deren traditionsverhafteter Vater den Liebhaber seiner Tochter, einen englischen Offizier, umbringen will, bis sie sich schließlich mittels einer Stechapfelblüte vergiftet und für diesen opfert, würde von jeder allzu rauen Regietheaterpranke vermutlich schnell erschlagen werden. Trotzdem lässt sie sich keineswegs auf die von der längst vergessenen Trillerdiva Lily Pons in diversen Kinofilmen als Virtuosenstück missbrauchte „Glöckchenarie“ reduzieren.
„Lakmé“ ist auch mehr als das sanft dahinsegelnde, vielfach zu Werbespot-Ehren (zuletzt bei der British Airways) gekommene Blumenduett „Viens, Mallika“. Der spritzige Ballettkomponist Leo Delibes war nicht umsonst einer der besten Instrumentatoren seiner Zeit.
So schlicht wie stimmig mischt sich hier gekonnt Kolonialismus-Hintergrund mit schillernd fremdländischem Flair, der mit seinen Militärmärschen und Melismen, Bajaderen-Tänzen und schwerblütigen Duetten durchaus wie ein Vorläufer musicalgreller Bollywood-Träume anmutet. Ohne jede Spur indischer Authentizität entsteht so das nostalgische Postkartenpanorama der Fernwehträume einer noch nicht globalisierten Zeit. Leicht zu singen ist das nicht.
Davon merkte man an der ersten „Lakmé“-Station dieses kleinen, fast durchwegs perfekt besetzten Parcours so gar nichts: Die Deutsche Oper Berlin spielte konzertant in der Philharmonie. Und wie! Die serbische Dirigentin Daniela Candillari konnte das Orchester bestens motivieren, es hatte Fülle und Flair. Der Kanadier Josh Lovell war ein zurückhaltender, lyrisch-idiomatischer Gérald zum Niederknien, obwohl die eindimensionale Rolle eher unsympathisch ist; schließlich kann er sich nicht so recht zwischen seiner Verlobten Ellen und der minderjährigen Lakmé entscheiden.
Das Zeichnen von deren Juwelen in Abwesenheit deutet Programmschreiber Anselm Gerhard gar als Ersatz-Vergewaltigung. Dafür wurden in den paar Regieandeutungen immerhin auch Blumenblüten gestreut und auf dem Bazar Perlenketten geklaut.
Aigul Khismatullina – eine Lakmé aus Tatarstan – prunkte mit dunkler, kraftvoller Koloraturstimme samt sicheren, üppigen Höhen und schillernder Färbung. Thomas Lehman gab einen etwas eindimensional bösen, aber auch eindrücklichen Oberpriestervater Nilakantha. Mireille Lebel verlieh der episodischen Mallika strömende Duettsüße.
Hier schon bestätigte sich die atmosphärische Exzellenz dieser einst zu Recht viel gespielten Oper durch die musikalische Qualität. Auch wenn das Programmheft seltsamerweise das Stück heftig abzuwerten versucht: Das Publikum stimmte mit den Füßen ganz anders ab.
An der Paris Opéra-Comique spielte man die sprachlich etwas zugespitzt aktualisierte Dialoge-Version. Und während Raphaël Pichon seine historisch informierten Vokal- wie Instrumentalensembles Pygmalion zu einem trocken-spritzigen, flexiblen, aber auch dunkel-pikanten Klang anhielt, versuchte Laurent Pelly in neutral anmutenden Dekors die Klischees der Geschichte erfolgreich zu umschiffen.
Pelly zeigte Lakmé (nach ihrem Durchbruch hier vor sieben Jahren neuerlich eine glöckchenhell-feine, aber auch kratzbürstige Sabine Devieilhe mit stratosphärischen Lasertönen) als prunkverziertes, in einem Käfig ausgestelltes Instrument ihres Vaters. Sie hat zu funktionieren und findet erst durch Géralds Liebe (schwach und einfarbig: Frédéric Antoun) zu mehr Eigenständigkeit.
Jetzt merkt man deutlich: „Lakmé“ ist die Oper einer sich als Akt der Emanzipation angesichts ihres dominanten Vaters opfernden Frau, nicht unähnlich Wagners Senta. Wer hier macht- und ideologiepolitisch nichts zu melden hat, das ist der Mann. Der folgt als süß singender, dabei emotional schwankender Tenor nur seinen Gefühlen.
Stéphane Degout war ein herrischer, aber auch gebrochener Nilakantha. Trotzdem bleibt selbst er – leider eine Schwäche der Personenzeichnung – seiner eindimensionalen Racheschablone verhaftet. In dem zunächst monochrom hellen Ambiente aus zerrissenem Reispapier, in das sich stilisierte Marktläden schoben, war er so etwas wie die am Ende verlorene Seele. Ungebrochen vergnüglich hingegen sind auch in dieser differenzierten, spannungsvollen Produktion (die auf Arte zu sehen ist) die ironisch karikierten Engländer.
Zwischen kolonialistischer Exotismus-Aneignung und üppiger Ausstattung fand schließlich Davide Farattini Raimondi etwas konservativer im eher traditionell ausgerichteten Lüttich einen guten „Lakmé“-Mittelweg. Frédéric Chaslin dirigierte mit Disziplin und rhythmischer Finesse. Auf der einfarbigen Bühne und in eher heutig anmutenden Indien-Kostümen entfaltete sich einen bunter, aber nicht unkritischer Bilderbogen.
Auch hier spielte man die Rezitativfassung, sparte aber ausgerechnet in der (bei den anderen gestrichenen) Balletteinlage zu Anfang des zweiten Aktes nicht an Politkritik. Ansonsten musste an der rechten Bühnenseite der stumme Gandhi im Kreise seiner Jünger ganz brechtisch buchstabentreu unter seinen Spruchplakaten für das gute Operngewissen sorgen.
Eher statisch sängerfreundlich arrangiert war der eigentliche Handlungskern, der freilich im dritten Akt, platziert in einem giftgrünen Offiziersclub samt Jagdtrophäen und Königin Victoria an der Wand, noch einmal einen mokanten Unterton bekam. Philippe Talbot war der zurückhaltend feine Gérald, Jodie Devos die anrührendste Lakmé mit trotzdem genügen Vokalglamour. Lionel Lhote (Nilakantha) gefiel weniger harsch, dafür väterlicher in seinem Glaubensfuror. Marion Lebègue (Mallika) und die anderen Nebenrollen lieferten stimmig frankophones Beiwerk.
So gerät „Lakmé“ gleich dreimal in Berlin, Paris, Liège keineswegs ins Kolonialismuskreuzfeuer. Es erwies sich als äußerst spielbar. Gerne öfter!