Berlin. Das im Iran spielende Musiktheaterstück „Negar“ erlebte eine bejubelte Uraufführung an der Deutschen Oper.

Der Iran ist seit 1979 ein von einer Klerikerkaste gelenkter Gottesstaat. Frauen müssen sich in der Öffentlichkeit verschleiern, der Genuss von Alkohol ist gesetzlich untersagt, auf Homosexualität steht die Todesstrafe und westliche Musik ist verboten, erzwungene Auftrittsverbote sind bis heute an der Tagesordnung. All diesen Repressionen zum Trotz hat sich insbesondere in der Hauptstadt Teheran in den letzten Jahren eine vielschichtige Subkultur entwickelt. Dabei spielt sich das Nachtleben der Millionenmetropole in einer Parallelwelt ab, in der man ständig das Risiko eingeht, den Unmut der Behörden auf sich zu ziehen.

Das Musiktheaterstück „Negar“, das in der Tischlerei der Deutschen Oper am Sonnabend seine Uraufführung erlebte, erzählt von der Iranerin Shirin, die nach mehreren Jahrzehnten Aufenthalt in Frankreich in diesen repressiven Gottesstaat zurückkehrt und dort ihre Jugendfreunde Negar und Aziz wiedertrifft. Das Wiedersehen weckt alte Erinnerungen und konfrontiert die drei mit der Frage nach ihrer Identität. Alle suchen nach dem Vertrauten im Fremden, nach dem eigenen Selbst, und wie es sich im anderen spiegelt. Im Verlauf dieses Annäherungsprozesses entsteht eine lesbische Liebesbeziehung zwischen Shirin und Negar, als diese bekannt wird, werden die drei mit der unerbittlichen Gewalt des Staatsapparats konfrontiert.

„Negar“ ist ein Gemeinschaftsprodukt der französischen Regisseurin Marie-Ève Signeyrole und des iranisch-französischen Komponisten Keyvan Chemirani. Es schildert die Liebe zwischen zwei Menschen als lebensbedrohliches Politikum und zeigt, wie Musik und Kunst zum Mittel der Rebellion werden. Im Interview, das im Programmheft abgedruckt wurde, erklärt Signeyrole, dass es in dem Stück „um das Sehen und nicht Sehen“ geht, „um Blicke – hinter Schleiern, Offenes, halb Verborgenes.“ Für einen Menschen, der nicht aus dem Iran stamme, stelle sich dabei auch die Frage, welches Recht man habe, mit einer Kultur zu arbeiten, die nicht die eigene ist.

Die Recherche-Ergebnisse von damals wirken jetzt ganz aktuell

„Angesichts der aktuellen Entwicklungen im Iran ist die Frage nach der Legitimation, mit der man von etwas erzählt, noch größer geworden“, betont Signeyrole. „Wir haben bereits vor 2 Jahren mit dem Sammeln von dokumentarischem Material für ,Negar’ begonnen, und die Recherche-Ergebnisse von damals wirken jetzt ganz aktuell. Daran sieht man, dass die Entwicklungen der letzten Wochen natürlich schon länger unterschwellig da waren, unter der Oberfläche brodelten und jetzt deutlich zum Vorschein kommen.“

Anders als Marie-Ève Signeyrole wurde Keyvan Chemirani seit seiner Jugend von sehr unterschiedlichen Kulturen geprägt. So wuchs er in einer persischen Musikerfamilie in Frankreich auf: „Ich liebe die traditionelle persische Musik, es ist die Musik meiner Familie“, erklärt er. „In meine Kompositionen fließen aber auch ganz andere Einflüsse ein. Aus der Türkei, aus Indien, Osteuropa, das ist für mich sehr wichtig, dass es nicht nur iranische Musik ist und als solche wahrgenommen wird. Auch die Barockmusik hatte immer großen Einfluss auf meine Musik.“

Komponist Keyvan Chemirani spielt die Bechertrommel Zarb

Für „Negar“ stellte Chemirani ein zehnköpfiges Ensemble zusammen. Es umfasst vier Streicher von der Geige bis zum Kontrabass, Posaune und Schlagzeug, hinzu kommen persische Instrumente wie die Bechertrommel Zarb, die Chemirani bei der Aufführung selbst spielte, eine hölzerne Querflöte, und die Laute Saz. Die Musik zu „Negar“ spiegelt viele vom Komponisten benannte Einflüsse wider. Neben Zwischenspielen der Streicher, die sehr an barocke Kammermusik erinnern, gibt es insbesondere bei den Festszenen längere Passagen mit traditionell persischer Musik, bei der die Musiker sogar zum Teil auf die Bühnen kommen und somit zu Darstellern avancieren.

Auch in den Gesangsparts erklingen einerseits persische Lieder, die auch auf traditionelle Weise, sprich nicht mit einer Opernstimme, vorgetragen werden, es überwiegen jedoch die opernhaft gestalteten Partien, die in Tonalität und Melodieführung an die Opern des 19. Jahrhunderts erinnern. Hier wird bereits deutlich, dass die klassisch-europäischen Abschnitte der Musik sehr traditionell konzipiert sind. Vor allem die neobarocken Zwischenspiele der Streicher klingen gefällig, sind Wohlfühlmusik, was verwundert, weil es in „Negar“ eigentlich um Rebellion, Unterdrückung und Gewalt geht.

Als Zwischenmusik zur Überbrückung einer Umbaupause wurde einmal der Song „Smells Like Teen Spirit“ von der Grungerockband Nirvana eingespielt. Etwas mehr von der zornigen Punk-Attitüde dieses 90er-Jahre-Songs, der das Lebensgefühl einer enttäuschten Teenager-Generation jener Zeit zum Ausdruck bringt, hätte der Musik zu „Negar“ gutgetan.

Die Musik überzeugt vor allem, wenn Persisch-Folkloristisches erklingt

So überzeugt die Musik des Ensembles vor allem dann, wenn Persisch-Folkloristisches erklingt, was auch mit den hervorragenden Musikern zusammenhängt. Insbesondere der Lautenspieler Efrén López leistete da durch sein ebenso hochvirtuoses wie ausdrucksstarkes Spiel viel, doch auch die hypnotisierende Eindringlichkeit, mit der Chemirani die Bechertrommel schlägt, packte die Zuhörer. Die waren auch von dem mitreißenden Spiel der Darsteller begeistert, speziell die iranischstämmige Kanadierin Golnar Shayar als Negar zog das Publikum in ihren Bann, wie auch der Amerikaner Julian Arsenault, der in der Rolle des großen Bruders mit seiner sonoren Bariton unter den insgesamt überzeugend agierenden Sängern besonders herausstach.

Das Bühnenbild war eher minimalistisch gehalten, viele Szenen zeigten die handelnden Figuren bei Festen oder größeren gemeinsamen Essen, die in der persischen Kultur traditionell eine große Rolle spielen. Das Publikum in der ausverkauften Tischlerei der Deutschen Oper war von dieser musikalisch-dramatischen Reise in den Iran restlos begeistert und bedankte sich mit Applaus und stehenden Ovationen.

Deutsche Oper/Tischlerei, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34384343 Termine: 31.10.; 1., 2., 3., 5., 6.11.