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Festival d'Aix-en-Provence 2022

Moïse et pharon (Moses und Pharao)

Oper in vier Akten (1827)
Libretto von Luigi Balcchi und Étienne de Joey
Musik von Gioacchino Rossini


In französischer Sprache mit französischen und englischen Übertiteln
Aufführungsdauer: 3h 30' (zwei Pausen)

Koproduktion mit der Opéra national de Lyon und dem Teatro Real Madrid

Premiere am 7. Juli 2022, Théâtre de l'Archevêché, Festspiele Aix-en-Provence,


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Festival Aix en Provence
(Homepage)

Fundstücke

Von Roberto Becker / Fotos von Monika Rittershaus

An der Oper in Lyon haben Tobias Kratzer und sein Stammausstatter Rainer Sellmaier vor drei Jahren schon mit Rossinis Guillaume Tell Eindruck gemacht. Als Festspielkoproduktion mit dem Orchester der Oper Lyon im Graben folgte jetzt in Aix-en-Provence mit Michele Mariotti am Pult Gioacchino Rossinis für Paris komponierte Grand opera Moïse et pharon. Wie bei diesem Regisseur zu erwarten, natürlich nicht als Historienspektakel, sondern als eine Spurensuche in der Gegenwart.

Es geht um die biblische Geschichte des Auszugs der von Moses angeführten Hebräer aus Ägypten. Überlieferungsgemäß nicht ohne dass Moses dafür sorgt, dass sich das Rote Meer teilt und die Hebräer trockenen Fußes auf ihren Weg machen können, während die sie verfolgenden Ägypter von den Wassermassen verschlungen werden. Für diesen szenischen Effekt hat Manuel Braun Videos beigesteuert. Anders ist das mit den technisch kargen Mitteln der Bühne des Freilufttheaters auch nicht zu machen.

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Die atmosphärische Bühne des Théâtre de l'Archevêché, bei der in dieser Inszenierung die historische Fassade des erzbischöflichen Palastes mal nicht verbaut, sondern als Hintergrund einbezogen wird, ist zu Beginn zweigeteilt. Auf der rechten Seite sind die Ägypter in einem modernen Büroambiente emsig beschäftigt. Offensichtlich hauptsächlich mit der Frage, wie man mit den Hebräern verfahren soll, die auf ihre Auswanderung bzw. Freilassung drängen. Eliézer (Mert Süngü), der Bruder von Moses, führt persönlich die Verhandlungen. Allein schon an der Körpersprache der Unterhändler wird klar, wie dringlich das Anliegen für den einen ist und wie der andere dem mit einer Mischung aus Arroganz und Herablassung begegnet. Das ist unverkennbar von vergleichbaren Konstellationen aus dem weltweiten Bürokratiealltag der Gegenwart inspiriert. Dabei gibt Adrian Sâmpetrean den Pharao nicht als Halbgott, sondern eher als Beamten einer Ein- bzw. Auswanderungsbehörde. Ein Bürokrat, wie er im Buche steht. Dazu passt letztlich auch der so souveräne wie gönnerhafte, schlichtende Auftritt der Gattin des Pharao als elegante First Lady mit einer eigenen Meinung. In dieser Rolle macht Vasilisa Berzhanskaya nicht nur darstellerisch, sondern auch mit ihrer vokalen Leuchtkraft und Eloquenz die beste Figur. Sie gibt damit einen Maßstab für die Produktion vor, der die anderen blass aussehen lässt.


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Die andere Seite der Bühne, auf der sich die Unterkünfte der quasi auf gepackten Koffern sitzenden Hebräer befinden, wird von der Persönlichkeit des historisch ausstaffierten Moses beherrscht. Michele Pertusi verbreitet bei seinem Auftreten mit Hirtenstab, rotem Umhang und weißem Rauschebart stets die entsprechende Aura. Er ist vor allem mit der permanenten Berufung auf seinen Gott das optische und vokale Kraftzentrum bei den Hebräern.

Mit dieser historischen Haupt- und Staatsaktion ist natürlich auch eine Liebesgeschichte verbunden. Operngemäß über die Grenzen der Parteien hinweg, ist es die zwischen dem Pharaonen-Sprößling Aménophis und der Moses-Nichte Anai. Natürlich ohne Happyend - denn als sich Anai - von Moses mit unbeirrbarem Fundamentalismus eingefordert - zwischen ihrem Gott, also der bevorstehenden Abreise, und einem Leben an der Seite ihres Geliebten entscheiden soll, entscheidet sie sich für ihren Gott und gegen Aménophis. Wobei man sich nach seinen diversen Wutausbrüchen schon fragt, ob das nicht tatsächlich die richtige Entscheidung war. So wie der Herrschersohn hier gezeichnet wird, wäre das wahrscheinlich eh' nicht allzu lange gut gegangen. Als Anai überzeugt Jeanine De Bique vor allem mit ihrem Mut zu vehementen Spitzentönen und Koloraturen. Bei Pene Pati ist allenfalls das Bemühen, den mit sich ringenden Macho als Liebenden zu zeigen, respektabel.

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Die Ideologen auf ägyptischer Seite fordern in Gestalt des Priesters Ossified, den Edwin Crossley-Mercer als smarten, ehrgeizigen Aufsteiger im schicken hellblauen Businessanzug und mit markanter Eloquenz gibt, vor der Auswanderungserlaubnis, dass die Juden vor der Göttin Isis auf die Knie gehen sollen. Diese Geste einer (überflüssigen) Demütigung verweigert Moses natürlich. Er lässt "seine Beziehungen" spielen, jedenfalls werden die plötzlich auftretenden Störungen etwa der Stromversorgung seinen Gebeten zugeschrieben. Kratzer unterschlägt auch das Ballett im dritten Akt nicht. Hier ist es eine Einlage für die Vertreter der ägyptischen Elite, die sich allerdings während dieser Darbietung mehr von den auf ihren Handys eintreffenden neuen Katastrophennachrichten in Bann ziehen lassen.

Am Ende schaffen es die Hebräer in dieser Lesart, ausgerüstet mit Schwimmwesten in ihren Schlauchboten, ans rettende Ufer. Das heißt hier: die von Richard Wilberforce bestens auf seine tragende Rolle vorbereiteten Choristen landen verteilt im Zuschauerraum. Von dort aus verfolgen sie - wie auch die Zuschauer - in Großaufnahme auf dem Zwischenvorhang ein Video, in dem die ägyptischen Verfolger in ihrem Businessoutfit ins Wasser rennen und dann ganz profan untergehen. Sogar aus der Unterwasserperspektive. Gerade diese Bildlösung, die natürlich unwillkürlich auch auf diverse aktuelle Bilder aus dem Mittelmeer verweist, ist dennoch genau so weit davon abstrahiert, dass sie nicht zu einer plakativen Nutzung von realen Katastrophen wird.


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Das Schlussbild wirkt wie eine dialektische Pointe zu der Suche nach Spuren der Überlieferung in der Gegenwart, die Kratzer bis hier her überzeugend zelebriert hat. Da sieht man saturierte Urlauber am Strand in ihren Liegestühlen entspannen. Für eine Sekunde scheint eine junge Frau irritiert, als sie den Knüppel findet, mit dem Moses einst unterwegs war. Sie wirft ihn jedoch achtlos zur Seite. Damit bleibt die Frage im Raum, was man schon wirklich von der Geschichte der Vorfahren weiß.

Für die gekonnt und spannend ins Heute übersetzte alte Geschichte treffen auch Michele Mariotti und seine Musiker im Graben den dazu passenden dramatischen Freiluft-Ton.


FAZIT

Tobias Kratzer ist eine gekonnte und spannende Vergegenwärtigung von Rossinis Grand opera Moïse et pharon gelungen. Musikalisch mit einem überzeugenden Orchester und einigen Glanzleistungen im eher durchwachsenen Protagonisten-Ensemble. Diese Festspielproduktion gehört also mit auf die Habenseite des aktuellen Festspieljahrgangs. Man darf jetzt schon gespannt sein, was Kratzer aus Wagners Ring machen wird, den er, wie jetzt (via New York Times) bekannt wurde, ab 2024 in München vorgesehen ist.






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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Michele Mariotti

Inszenierung
Tobias Kratzer

Ausstattung
Rainer Sellmaier

Licht
Bernd Purkrabek

Choreographoe
Jeroen Verbruggen

Video
Manuel Braun

Chor
Richard Wilberforce



Chor und Orchester der
Opéra de Lyon


Solisten

Moïse
Michele Pertusi

Pharaon
Adrian Sâmpetrean

Anaï
Jeanine De Bique

Aménophis
Pene Pati

Sinaïde
Vasilisa Berzhanskaya

Eliézer
Mert Süngü

Marie
Géraldine Chauvet

Ossified, eine geheimnisvolle Stimme
Edwin Crossley-Mercer

Aufide
Alessandro Luciano

Elegie, syrische Prinzessin
Laurène Andrieu

Tänzer
Martin Angiuli
Guido Badalamenti
David Cahier
Clémentine Herveux
Lou Thabart
Emiel Vandenberghe
Chiara Viscido


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