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Kultur Puccinis „Turandot“

Die Trendoper

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Szene aus Philipp Stölzls "Turandot" an der Berliner Staatsoper Szene aus Philipp Stölzls "Turandot" an der Berliner Staatsoper
Szene aus Philipp Stölzls „Turandot" in Berlin
Quelle: Matthias Baus
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Giacomo Puccinis letzte Oper ist das Musiktheaterstück des Jahres. Gleich vier Mal versuchen sich Dirigenten und Regisseure in ganz Europa am Fragment von „Turandot“. Ganz glücklich wird man damit nur in einer Stadt.

In vier Monaten vier „Turandot“-Aufführungen mit vier verschiedenen Finali. Die Musiktheaterwelt ist immer noch nicht ganz fertig mit Giacomo Puccinis unvollendet parabelhaftem Opernschwanengesang aus einem sagenhaften Peking, der die Theaterbesucher meist etwas ratlos zurücklässt.

Trotz des Mitsumm-Sellers „Nessun’dorma“ und einer überwältigend farbenreichen Partitur, die mit italienischem Melos prunkt, mit extravaganter Pentatonik wie gehärteter Moderne. Einer Musik, die leise verhaucht, aber auch brutal widerhallende Klangwände aufschichtet.

Als letztes kanonisches Repertoirewerk Puccinis 1926 uraufgeführt und damit zwei Jahre nach seinem Tod bietet es keine wirkliche Lösung für den Liebeskonflikt ihrer nur schemenhaften Figuren. Ähnlich wie andere berühmte Fragmente jener Epoche – Alban Bergs „Lulu“ etwa oder Schönbergs „Moses und Aron“ – kommen sie sich nicht nahe, der bleiche Prinz Calaf, die bis Mitte des zweiten Aktes kaum sichtbare Prinzessin Turandot.

Auch ihr Schöpfer fand keine überzeugende Plot-Lösung. Das Happy End wirkt wie angeklebt. Wohl auch deshalb ließ Arturo Toscanini in der ersten Scala-Vorstellung nach dem aufopferungsvollen Selbstmord der in Calaf verliebten Sklavin Liù (und damit den letzten, originalen Puccini-Noten) den Taktstock sinken.

Da stoppte Ende März in Rom die vom Krieg in ihrem Heimatland Ukraine aufgewühlte Dirigentin Oksana Lyniv. Weil der Regisseur es so wollte. Ai Weiwei, populärer, populistischer chinesischer Künstler und Dissident, hatte seine erste Operninszenierung als eher fadenscheinigen Genrefremdgeh-Gimmick einer statischen Rumstehveranstaltung mit politisch aufgeladenen Videos von Flucht, Verhaftung und Zerstörung einfach und ohne sinnfälligen Schlusspunkt enden lassen. Und am Ende plötzlich das Licht abgedreht. Finito la tragedia!

In der gleichen Stadt hatte zwei Wochen zuvor hingegen Antonio Pappano in seiner opulent weiträumigen konzertanten Aufführung mit dem Orchestra dell‘Accademia Nazionale di Santa Cecilia mit Stars wie Jonas Kaufmann, Sondra Ratvanovsky und Ermonela Jaho im Anschluss an eine Schallplatteneinspielung (für Warner) den längsten aller „Turandot“-Schlüsse gewählt.

Am 18. Juni feierte „Turandot“ in Berlin Premiere
Am 18. Juni feierte „Turandot“ in Berlin Premiere
Quelle: Matthias Baus

Während heute meist das schon in der zweiten Aufführung gespielte, etwa neunminütige Finalduett plus Chor von Franco Alfano nach den Puccini-Skizzen in der rigiden Kürzung Toscaninis zu hören ist, warteten die nach der Aufnahmewoche noch immer frischen Goldkehlen mit der um 150 Takte längeren Originalversion auf, die erstmals im Rahmen einer Kompletteinspielung festgehalten wurde.

Die verlängerte Annäherung dieser beiden überlebensgroßen Opernfiguren bekam dabei zumindest mehr Plausibilität. Und mag auch die „Turandot“ trotz ihrer märchenhaft-mythologischen Holzschnitthaftigkeit sich inzwischen den Vorwurf der kulturellen Aneignung asiatischer Stereotypen gefallen lassen müssen, rein musikalisch war das ein Fest der Disziplin, der polyphonen Durchsichtigkeit, der harmonisch ausgereizten Grenzerkundung und der raffinierten Tonfinesse. Ein Opernfest de luxe.

Das wollte jetzt auch die jüngste Neuinszenierung an der Berliner Lindenoper sein. Doch nicht nur mit dem kurzen Alfano-Schluss folgte man hier der Konvention. Bereits der greise Zubin Mehta auf Autopilot am Pult der gewohnt verschwenderisch aufspielenden Staatskapelle lieferte nur ein flaches, geschmacksneutral routiniertes Abziehbild dieser deliziösen Partitur. Die hier, in der nach wie vor problematischen Akustik oft nur ein überlaut dröhnender, alles gierig schluckender, dumpf wabernder Tonbrei war: „Turandot“ als Klangschlachtplatte.

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Die eigentlich vorgesehene Anna Netrebko hatte man bereits im Februar ausgeladen (im Herbst 2023 darf sie hier aber wieder singen), ihr auch gern nationalistische Töne spuckender, als Divendreingabe mitengagierter aserbeidschanischer Gatte Yusif Eyvazov konnte freilich bleiben. Und überdröhnte als wirklich nie schlafender Calaf mit seiner bräsigen, in der Höhe Stahl schneidenden Stimme selbst noch Mehtas pauschales Perkussionsbataillon.

René Papes müde grummelnder Calaf-Vater Timur erfüllt schon länger nicht mehr, was sein Name verspricht. Während sich bei Pappano in Rom als generöser Platten-Cameo-Auftritt Michael Spyres abmühte, als Turandot-Papa Kaiser Altoum angemessen 173-Jahre-mürb zu klingen, hörte man dem Berliner Altoum Siegfried Jerusalem seine 82 Heldentenorlenze überdeutlich an; die Buhs waren aber unangemessen. Die sonst so glamouröse Aida Garifullina, ebenfalls Russin und an der New Yorker Metropolitan Opera nicht mehr gelitten, gab die Abräumpartie der Liù optisch als Albino-Mischung aus Prinzessin Leia ohne Haarnadeln und Mutter der Drachen, akustisch mit feinfühligen Sopranspitzen; aber ohne letzte Rührungsgrade.

Mit Philipp Stölzl als Regisseur war ein bilderverliebter Musiktheaterarrangeur am Werk, der diesmal gerade solche verweigerte – weil er dem Werk generell nicht traut. Und so wiederholte er seine tragende Inszenierungsidee des Bregenzer See-„Rigoletto“: eine wandelbare Puppe muss es reißen. Statt eines riesigen Clownskopf war es diesmal eine mühsam geführte, bühnenbeherrschende Monstermarionette über einem bisweilen rauchenden Schlund als zunächst gesichtslos weiblichem Idol der Grausamkeit in einer mal wieder an Nordkorea erinnernden Diktatur. Unter ihrer Krinoline wird brutal gemordet, sie zerfällt dabei in ihre Einzelteile als insektenhafter Totenschädelpopanz.

Strahlende Anderswelt: Szene aus „Turandot“ in Genf
Strahlende Anderswelt: Szene aus „Turandot“ in Genf
Quelle: © Douglas Magali

Warum das Volk sie führt, sich aber von ihr gleichzeitig knechten lässt, wird genauso wenig klar, wie die optische Angleichung der kahlköpfig hässlichen Turandot, die in Gestalt von Elena Pankratova fulminant gleißende, nie schartige Leuchtongarben abfeuert. Was Kalaf an ihr findet? Keinen Schimmer, vermutlich vergiftet sie sich deshalb.

Auch das Grand Théâtre de Génève, wo Intendant Aviel Cahn auf eine großartig gelungene, endlich fast einschränkungslose dritte Saison stolz sein kann, hat eine neue „Turandot“. Hier steht jedoch nicht so sehr der Regisseur, der ordentliche Brite und kurzzeitige English National Opera-Direktor Daniel Kramer im Fokus, sondern das japanische Künstlerkollektiv teamLab, das mit seinen Laser- und Digatalinstallationen sonst Museen und Ausstellungshäuser bespielt. Anders als in der völlig technoid überfluteten Puccini-Inszenierung durch La Fura dels Baus (inklusive 3D-Pappbrillen) in München, werden in Genf die Gimmicks zurückhaltend eingesetzt.

Das Volk haust hinter Membranen in einer schwarzen (Underdogs) und einer höheren weißen (Erwählte) kantigen Ebene. Davor steht ein Wasserbecken mit einer Art heiligem Meteoriten, wo eine von oben herabgelassene, noch stumme Turandot als böses Insekt, den dekorativ nackt bereits von schwarzen S/M-Henkern und Henkerinnen gefolterten persischen Prinzen als vorerst letzten gescheiterten Brautwerber mordet, indem sie ihm seine Männlichkeit in Blumendoldenfirm nimmt.

Massenselbstmord hinter Plexiglas

Auch ihr Vater hält hier später Hof und wird schließlich tot aufgebahrt. Die Rückseite dieser Aufbauten nimmt eine spiegelnde, in verführerisch bunten Rückprojektionen schillernde Pyramide ein, eine Art Irrgarten der Seele. Wie glühende Blumensträuße und Sterne schießen auch bei den zeremoniösen Szenen Laserstrahlen durch den Raum, bündeln sich auf dem Gazevorhang oder krabbeln fast organisch über die schräge Decke.

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Schon weil Antonino Fogliani das Orchestre de la Suisse Romande viel flüssiger, biegsamer und dynamisch subtiler einsetzt, wirkt dieses Setting tiefsinniger, offener als die eindeutige Berliner Bebilderung. Die auch vokal flexible, in der Höhe ein wenig versteifende Ingela Brimberg ist eine jugendlich unsichere principessa di morte, die sich unwohl fühlt in ihren steifen Verpuppungen, diese immer wieder abwirft, um am Ende Calaf (solider Stahltenor: Teodor Ilincăi) geläutert im ungeschützten Unterkleid gegenübertritt.

Die herrschende Nomenklatura, der tumbe Altoum (herrlich greisenhaft: Chris Merritt) und die genderfluide, fashion-süchtige Ministertrias, hat samt ihrer Henkerschar schon Massenselbstmord begangen, so wie sich Liù (sopranordentlich: Francesca Dotto) und Timur (jugendlich sonor: Liang Li) in Plexiglaskäfigen erdolcht haben.

Doch dieses Todesreich, so verspricht es auch der diesmal verwendete, tristanesk reizharmoniependelnde, klanglich offene, lyrisch traumhafte Luciano-Berio-Schluss von 2009, es könnte endlich eines der Lebenden werden. Zumindest verspricht das astralhaft weiße, nur kurz noch im Finale zu sehende Hohe Paar, bevor es im Lasernebel verschwimmt: „Turandot“ als grausam geradliniges Beziehungskrieg-Märchen von heute – zumindest das in Genf audiovisuell einprägsam gelungen.

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