1. Startseite
  2. Kultur

„Peter Grimes“ am Staatstheater Nürnberg: Im Namen des Volkes - schuldig

KommentareDrucken

Peter Marsh als Peter Grimes
Die Aufführung ist, im Gegensatz zu anderen Inszenierungen, eindeutig: Peter Grimes (Peter Marsh) ist ein Mörder. © Ludwig Olah

Als dreckiges kleines Stück, nicht als große Britten-Oper lässt Tilman Knabe „Peter Grimes“ in Nürnberg spielen. Ergebnis ist eine drastische, packende Aufführung.

77 Jahre sind seit der Uraufführung verstrichen. 109 Jahre seit der Geburt des Komponisten, 46 seit seinem Tod. Krumme Zahlen, keine jubiläumsverdächtig. Und doch haben sich drei bayerische Staatstheater in dieser Saison für Benjamin Brittens „Peter Grimes“ entschieden. Eine Oper über einen Fischer, dem tödlicher Missbrauch an Lehrlingen vorgeworfen wird, als Stück der Stunde?

Dabei lädt die Geschichte zu mehr ein, nicht „nur“ zum Grusel vor der bösen Tat: Von einem Außenseiter erzählt sie, aber auch von Engstirnigkeit und Ignoranz, von Gleichgültigkeit und einer durch Verdächtigungen entflammbaren Gesellschaft. Und diesen Mob kann es nicht nur in britischen Küstendörfern geben, sondern genauso in Dresden oder München.

Im Vergleich zur Bayerischen Staatsoper und Augsburg glückt dem Staatstheater Nürnberg die drastischste, packendste Version. Intendant Jens-Daniel Herzog hat von seiner früheren Wirkungsstätte Dortmund die Inszenierung des Kollegen Tilman Knabe mitgebracht. Dem passieren gern bizarre Regie-Verwüstungen, hier passt so gut wie alles. Obgleich sich Brittens Musik zur raumgreifenden Geste streckt, besonders in den naturgewaltigen Meeresschilderungen, so gibt es da auch anderes. Bissiges, Skurriles, Revuehaftes, einen schwarzhumorigen Drive, der nach Operettenfratze tönt.

Es wird gesoffen, getanzt und gegrapscht

Folgerichtig lässt Knabe nicht große Oper spielen. Sein „Peter Grimes“ ist ein dreckiges, kleines Stück. In dem ertrinken nicht nur Lehrjungen im Meer, sondern die Kerle des Dorfes im Alkohol. Es wird gesoffen, getanzt, gegrapscht. Alles heruntergekommene Wildsäue. Deshalb heißt die Küstenkneipe, über der eine erstarrte, zerfetzte britische Flagge steht, auch „The Boar“, also Eber (Bühne: Annika Haller, Wilfried Buchholz; Kostüme: Eva-Mareike Uhlig). Die Perspektive reicht nur bis zum nächsten kleinen Glück. Das kann eine Dose Bier sein oder im Falle mancher Frauen ein paar Geldscheine der Freier. Die Aufführung erschöpft sich nicht im Genre-Bild, im – oft peinlichen – Nachzeichnen einer Schmuddel-Realität. Immer wieder dehnen sich die Bilder zur Zeitlupe oder erstarren ganz, werden getaucht in ein irreales grünes Licht. Was echt, was Ausdruck innerer Dämonen, das verwischt. Und vielleicht ist vieles auch „nur“ eine nach außen gestülpte Version des Titelhelden.

Die Regie ist hier, im Gegensatz zu vielen anderen Inszenierungen, eindeutig: Ja, Grimes ist schuldig. Da wird nichts angedeutet oder empathisch erklärt. Davon kündet nicht zuletzt die Kindsleiche, die im Wohnwagen des Fischers liegt – der sie daraufhin ins Leinentuch wickelt, bevor er das Blut vom Bett wischt. Gleichzeitig spricht Tilman Knabe auch das Dorf nicht frei. Als Ellen ihren geliebten Grimes nach seiner dunklen Seite fragt, ihn immer mehr bedrängt, greifen die Männer drum herum wie unbeteiligt zum Bier. Alle wissen Bescheid, keiner schreitet ein.

Peter Marsh als Grimes riskiert einen Grenzgang

Fast jedes Mitglied des grandios agierenden und singenden Nürnberger Opernchores gibt seiner Figur eine kleine Geschichte, auch das ist ein Ergebnis von Knabes minutiöser, sehr körperlicher Regie. Die wagt sich auch vor zum expressiven Grenzgang: In Grimes’ finalem Solo wird ein von Widersprüchen zerfetzter Schmerzensmann ausgestellt. Peter Marsh spielt das nicht nur großartig, er macht das mit jeder Nuance, mit jeder Wort-Ton-Reflexion, mit seiner Intensität auch klanglich plausibel. Über keine der in dieser Rolle typischen Heldenstimmen gebietet er, sondern über einen schlanken, wendigen, in jeder Lage ansprechenden Tenor, der gleißen kann und trotzdem kontrolliert bleibt.

Auch für Ellen Orford, von Emily Newton als vielschichtige Charakterstudie gedeutet, lässt sich derzeit kaum eine bessere Besetzung denken. Nicht nur die landläufige Engelsfigur des Stücks verkörpert sie: Stärke und Verletzlichkeit sieht und hört man, vor allem Frust über eine gescheiterte Beziehung. Anfangs liegen beide als Paar in jenem Bett, in dem später der Lehrbub stirbt.

Über Balstrode wird ebenfalls viel erzählt. Der ist nicht gemütlicher, weiser Kapitän, sondern zwielichtiger Leder-Bulle, der seine Güte mit Härte panzert. Sangmin Lee kann dafür das große Vokalbesteck auspacken, seinen Bass aber auch bis zur leisen Zerknirschung dimmen. Kulinarik verweigert Lutz de Veer, Erster Kapellmeister des Hauses, mit der Staatsphilharmonie Nürnberg, selbst in den dankbaren Zwischenspielen. Man hört scharf geschnittene Phrasen und Schichten, eine in allen ihren Widerhaken und Widersprüchen wie entblößte Partitur. Jubel und Betroffenheit. Ein Abend, der im besten Sinne belästigt.

Auch interessant

Kommentare