Jenůfa erwartet ein Kind von Števa, dem jungen Mühlenbesitzer, doch der ist mehr an anderen Mädchen interessiert. Sein Halbbruder Laca liebt Jenůfa so sehr, dass er ihr aus Eifersucht mit einem Messer die Wange verletzt. Ihre Stiefmutter, als Küsterin des Dorfs ebenso bigott wie moralstreng, versteckt die schwangere Jenůfa vor dem Dorf und ertränkt das neugeborene Kind im Teich. Es ist eine grausame Geschichte glühender Leidenschaften, die in dem 1890 uraufgeführten Drama „aus dem mährischen Bauernleben” Její Pastorkyňa (Ihre Ziehtochter) von Gabriela Preissova erzählt wird. Leoš Janáček hat sie so bewegt, dass er sie zur Vorlage für seine Oper machte.

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Jenůfa
© Bernd Uhlig (2021)

Vom mährischen Bauernleben ist in der Inszenierung an der Berliner Staatsoper allerdings nichts mehr übrig geblieben. Statt der bäuerlichen Atmosphäre einer Mühle in den Bergen herrscht hier die bedrückende Enge einer kleinbürgerlichen Familie aus gar nicht so ferner Zeit, als uneheliche Kinder noch als Dorfschande galten. Paolo Fantin hat für die Inszenierung einen abgezirkelten Raum aus milchigen Plastikwänden geschaffen, nur schemenhaft lichtdurchlässig und unangenehm kalt und abweisend. Ein paar schlichte Bänke, später ein spießiger Teppich, eine Baby-Wiege und immer anwesend ein kleiner Altar mit Monstranz, Kerzen und einem Kreuz – mehr Requisiten braucht es für Regisseur Damiano Michieletto nicht, um aus dem naturalistischen Sozialdrama Preissovás und Janáčeks die Analyse einer Familie in einer zwanghaft an überkommenen Normen fixierten Gesellschaft zu machen – in solch aseptischer Umgebung höchst konzentriert und psychologisch genau. Nicht einmal der Chor erscheint auf der Bühne, sondern singt aus dem Off.

Im Februar 2021 konnte die Produktion pandemiebedingt nur virtuell als Livestream gesehen werden, in veränderter Besetzung fanden in diesen Wochen nun Aufführungen vor Publikum statt. Und mehr noch als am Fernseher oder PC wirkte die Inszenierung beklemmend dicht und berührend zugleich. Denn großartige Sängerdarsteller standen auf der Bühne der Staatsoper, allen voran Asmik Grigorian in der Titelrolle, gleichermaßen hinreißend in Darstellung und Gesang.

Grigorians Jenůfa ist eine moderne Frau, selbstbewusst, verletzlich, am Schluss durch Unglück gereift und zum Verzeihen bereit. Eine Wandlung, welche die Sängerin faszinierend verkörperte. In ihren Monologen, vom Komponisten zu seelischen Minidramen gestaltet, spielte sie die Facetten der Figur aus, sang mit höchster Empathie für die Rolle deren Ängste und Qualen heraus. Ebenso intensiv kostete sie die wenigen Momente von Zärtlichkeit für ihr Kind aus, die ihre Stiefmutter aus Angst vor der Schande ihr missgönnt.

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Jenůfa
© Bernd Uhlig (2021)

Zurecht bemerkte der große Opernregisseur Götz Friedrich, Janáčeks Figuren seien niemals eindimensional. Auch die Küsterin ist es nicht. Verhärtet und abweisend nach außen (im hochgeschlossenen schwarzen Kostüm mit einem Kreuz am Revers) zeigte Dalia Schaechter diese Frau als zwanghaft in ihrem moralischen Korsett gefangen. In einem Anfall von blasphemischer Hybris redet sie sich den Mord an Jenůfas „Kind der Sünde” als gottgefällige Tat ein. Innerlich aber wird sie von Schuldgefühlen zerrissen, die sie an den Rand des Wahnsinns bringen, aber am Schluss doch noch zu schonungsloser Reue bereit machen. Hart und bis zum Verzweiflungsschrei expressiv sang Schaechter diese Partie und schonte sich auch nicht in der überaus fordernden Darstellung der Rolle. Ein überaus packendes Rollenportrait.

Auch die beiden männlichen Hauptrollen der beiden Halbbrüder waren exzellent besetzt. Števa, der versoffene Erbe der Mühle und Laca, der Zurückgesetzte und etwas Täppische. Stephan Rügamer sang ihn in einer Mischung aus Trotz und Zuneigung für Jenůfa, wild in seinen Aggressionen, aber zugleich zärtlich und zu bedingungsloser Liebe fähig. Denn am Schluss kommen beide zusammen. Doch ein banales Happy End ist es nicht, eher eine von gegenseitigem Leid und Verzeihen getragene Verbindung, der gerade deswegen die Chance einer wahren Liebe innewohnt. Števa dagegen zeigt sich von seinem ersten Auftritt an verantwortungslos. Das Kind, das Jenůfa von ihm bekommen hat, will er nicht einmal ansehen. Höchst präsent als großspurigen Prahlhans, unreif und ohne Rückgrat verkörperte Alexey Dolgov diese Figur. 

Aber auch seine geplante Heirat mit der plappernden Tochter des Dorfrichters Karolka (präzise getroffen von Evelin Novak) kommt nicht zustande, denn am Schluss bricht die von der Küsterin mühsam gezimmerte Fassade einer heilen Familie zusammen, wenn unter dem auftauenden Eis die Kindsleiche gefunden wird.

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Jenůfa
© Bernd Uhlig (2021)

Eis ist auch das immer dominanter werdende Symbol innerhalb dieser sonst so realistischen Inszenierung. Bereits im ersten Akt wird ein riesiger Eisblock auf die Bühne gezerrt, den Števa in einem Anflug fanatischer Wut in Stücke hackt, als wolle er die gesellschaftliche Erstarrung seiner Welt zerstören. Mit zunehmender Wucht der Katastrophe nach dem Mord der Küsterin an Jenůfas Kind, wächst ein immer größer werdender Eisberg aus dem Schnürboden auf die Bühne herab, unter dessen tauendem Wasser die Küsterin später ihre Schuld bekennt. Das wirkt denn doch etwas überstrapaziert.

Aber alle Bedenken verfliegen, wenn man an das Orchester zurückdenkt. Pure Freude war es, diese Musik zu hören, die der 29-jährige Thomas Guggeis grandios dirigierte. Mit feinem Gespür für die Nuancen der Partitur Janáčeks leitete er die Staatskapelle und besetzte ebenbürtig die Rolle Simon Rattles, die dieser bei der Online-Premiere dieser Produktion übernommen hatte. Packend, gewaltig und sanft zugleich, kühl distanziert und ausladend emotional war diese Oper an diesem Abend zu hören. Mit großem Bedacht ließ Guggeis den Sängerinnen und Sängern den Raum, den sie zur Entfaltung ihrer Stimmen brauchten. Den Schluss der hier gespielten Originalfassung baute das Orchester endlich zu dem klanglichen Triumph auf, den diese Oper bis dahin ihrem freudlosen Personal nicht vergönnt. 

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