Am Anfang ist da dieser Junge, der verzückt mit einer Nixen-Barbie spielt – bis ihm der Vater die Puppe erbost wegnimmt. Und am Ende des Abends in der Stuttgarter Oper schwebt ein Mann mit einem Fischschwanz Richtung Himmel. Sollte sich der Junge mit seinem Nixentraum doch noch gegen alle Konventionen durchgesetzt haben? Oder besiegelt die Himmelfahrt nicht vielmehr sein Scheitern in einer Welt, in der Meerjungfrauen nun mal Mädchenkram sind?

Die unmögliche Liebe

Zwischen diesen beiden Bildern steht Antonin Dvoráks Märchenoper „Rusalka“, die Geschichte von der unmöglichen Liebe zwischen einer Nixe und einem Prinzen. Der Stoff ist auch bei uns durch Hans Christian Andersens „Kleine Meerjungfrau“, auf die sich Dvoráks Librettist Jaroslav Kvapil explizit bezogen hat, hinlänglich bekannt. Hier wie dort wünscht sich eine Nixe – bei Dvorák/Kvapil heißt sie Rusalka – aus Liebe in die Menschenwelt und lässt sich dafür von einer Hexe entsprechend umwandeln. Der Preis: Rusalka bleibt als Mensch stumm und damit eine Außenseiterin. Auch der Prinz wird mit ihr buchstäblich nicht warm. Als er sich von einer fremden Fürstin verführen lässt, flieht Rusalka. Doch zurück in ihr altes Leben kann sie nicht mehr. Sie bleibt eine Fremde zwischen den Welten, ist weder Nixe noch Mensch, mit anderem Worten: keinem Geschlecht eindeutig zugehörig.

Glitzerwelt der Drag-Queens

An dieser Stelle kommen nun die Drag-Performer ins Spiel, mit denen Regisseur Bastian Kraft die Wald- und Wasserwesen in seiner Inszenierung doppelt. Auch sie wandeln ja zwischen den streng voneinander getrennten Geschlechtern und spiegeln dabei deren Träume und Ängste. Und ist die Verwandlung Rusalkas in einen Menschen letztes Endes nicht etwas wie eine Geschlechtsumwandlung?

Bevor nun die Alarmglocken der Regietheaterskeptiker schrillen: Nein, Bastian Kraft macht aus aus der Oper kein Drama über ein Transsexuellen-Schicksal. Die Hexe ist kein Chirurg und Rusalka wird auch keiner OP unterzogen, obwohl sie ein Weilchen braucht, um sich an ihren neuen Körper mit Beinen zu gewöhnen. Aber das ist Teil des Märchens. Kraft nutzt die Glitzerwelt der Drag Queens vielmehr dazu, Dvoráks „Rusalka“ als das zu erzählen, was sie ist – eine Märchenoper. Schillernde Fischschwänze inclusive.

Rusalka (Reflektra) fleht den Wassermann (Alexander Cameltoe) um Hilfe an.
Rusalka (Reflektra) fleht den Wassermann (Alexander Cameltoe) um Hilfe an. | Bild: Matthias Baus / Staatsoper Stuttgart

Während also oben auf einer Galerie die Sänger und Sängerinnen von Rusalka (wunderbar fließender Sopran: Esther Dierkes), Wassermann (Goran Juric), den Elfen (Natasha Te Rupe, Catriona Smith, Leia Lensing) und später der Hexe (Katia Ledoux) aufgereiht ihre Partien singen, stürzen sich ihre Doppelgänger unten (Bühne: Peter Baur) lustvoll ins Märchenspiel. Spiegel und Videodesign (Sophie Lux) lassen ein Wasser entstehen, in dem Drag-Performer Reflektra wie eine „echte“ Nixe angeschwommen kommt und wo Judy LaDivina als Hexe sie mit einem bösen Zauber belegt. Alexander Cameltoe schwingt als Wassermann einen glitzernden Dreispitz, und die verführerischen Elfen auf High Heels (Wilson/Vava Vilde, Lola Rose, Purrja) dürfen auch mal aufreizend mit den falschen Brüsten wackeln. Für Kostümbildnerin Jelena Miletic muss es ein Fest gewesen sein, all die prächtigen Kleider mitsamt blauen Haaren, Krönchen und Federboas zu entwerfen und dabei Märchen und Travestiekunst zu verschmelzen.

Die Stumme kann sich nicht erklären

Eine besondere Rolle kommt dabei Rusalkas Doppelgängerin zu, die als fremde Schöne durch die Welt der Menschen geistert. Diese reagieren mit Angst und Abscheu auf sie, und als Stumme kann sie sich ihnen nicht erklären. Die Besetzung mit einer Drag Queen scheint nirgendwo schlüssiger als hier. Und Reflektra, hinter der wiederum der klassisch ausgebildete Tänzer Joel Small steckt, lässt sie so verloren wirken inmitten der Festgesellschaft am Hof des Prinzen (das schwächste Glied unter den Top-Solisten: David Junghoon Kim), dass vom ersten Moment klar ist, dass sie mit ihrer Andersartigkeit hier niemals wird andocken können – und der intriganten Fürstin (Allison Cook) im Spiel der Geschlechter das Wasser nicht reichen kann.

Die Fremde Fürstin (Esther Dierkes) spannt dem Prinzen (David Junghoon Kim) Rusalka aus.
Die Fremde Fürstin (Esther Dierkes) spannt dem Prinzen (David Junghoon Kim) Rusalka aus. | Bild: Matthias Baus

Natürlich kann man in der Inszenierung auch ein politisches Statement sehen, die Kritik an einer Welt der binären Identitätszuschreibungen, in der andere Stimmen stumm bleiben müssen – wozu auch gehört, dass die Drags die Gesangpartien lautlos mitsingen. Dieser Subtext ist da, drängt sich aber nicht in den Vordergrund. Zumal es Bastian Kraft nicht bei einer Anklage belässt: Im dritten Akt nähern sich die Sänger und ihre Doppelgänger szenisch und optisch einander an – ein utopischer Moment des Zusammenkommens.

Märchenhafte Musik

An dem Gelingen dieses kulinarischen Opernabends hat natürlich Dvoráks Partitur ihren gebührenden Anteil. Die schmeichelnden Melodien des tschechischen Meisters gehen sofort ins Ohr, und auch die Instrumentierung spart nicht mit Märchenhaftem. Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, deren Karriere seit ihrem Bayreuth-Debüt vergangenen Sommer geradezu durch die Decke geht, wird dabei ihrem Ruf als ebenso präzise wie temperamentvolle Interpretin völlig gerecht. Ein Traum, diese „Rusalka“. Schön, wie Märchen eben sein müssen.

Kommende Aufführungen: 9., 11., 16., 19., 25. Juni. http://www.staatsoper-stuttgart.de