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„Babylon“ bei den Maifestspielen: Im Warenlager der letzten Bedeutungen

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Stark gefordert, aber auch brillant: der Chor. Vorne Otto Katzameier und Sarah Traubel.
Stark gefordert, aber auch brillant: der Chor. Vorne Otto Katzameier und Sarah Traubel. © Karl und Monika Forster

Jörg Widmanns Oper „Babylon“ eröffnet die Wiesbadener Maifestspiele.

Mit Großem und Grundlegendem sind die Wiesbadener Maifestspiele eröffnet worden. Mit Jörg Widmanns Oper „Babylon“, deren Libretto von Peter Sloterdijk stammt. Es ist die dritte Inszenierung des dreistündigen Werks, dessen Uraufführung vor zehn Jahren in München stattfand. Die sieben Jahre später entstandene, entschlackte Fassung, die in Berlin gezeigt wurde, ist jetzt, mit kleineren Veränderungen, Grundlage der im Großen Haus des Staatstheaters zu Gehör und Gesicht gebrachten. Eine Art frühgeschichtlicher „clash of civilizations“ ist das Thema der Oper, die um Themen wie Opfer, Totenerweckung, Erlösung und deren Bezug zu freier Liebes- und Sozialbindung kreist.

Sieben „Bilder“ hat das Werk, das den Geist der „unsichtbaren Religion“ atmet, wo die Säkularisierung des Sakralen zum „Heiligen Alltag“ geführt hat. Zur Selbstverwirklichung im Warenlager der letzten Bedeutungen, wie das Thomas Luckmann nannte.

Ein zur jüdischen Exilgemeinde Babylons gehöriger junger Mann gerät zwischen die Fronten seiner streng verregelten, schriftfixierten Religiosität und seiner Umwelt mit ihren Reizen und Perspektiven. Entscheidend sind dabei zwei Frauen: die personifizierte Seele des jungen Juden als ein geschwisterlich liebendes Alter ego und eine Priesterin – die „Schwester der Wollust“. Tammu, der junge Mann, fühlt sich wie „zwischen zwei Feuern“, wie zwischen „Sonne und Mond“. Man geht wohl nicht ganz fehl, in dem Stoff auch Spuren des seinen Spengler über magische Kulturen gelesen habenden, ehemaligen Sanyasin Sloterdijk zu finden, der in den 70er Jahren zu den Adepten des Osho alias Bhagwan im Ashram zu Poona zählte.

Regie geführt hat Daniela Kerck, die auch das Bühnenbild verantwortet. Eine moderne Abflughalle mit einer den Bühnenhintergrund ausfüllenden Fensterfront, auf der man typische Rollfeldszenen in Video-Animation sieht. Im Wartesaal selbst befinden sich die Fluggäste und das Personal, darunter die Juden mit Schläfenlocken, Schtreimel-Hut und Gebetstuch mit Schaufäden, zwischen denen das Geschehen seinen Lauf nimmt. Tammus „Seele“ tritt in bravem Jungmädchen-Look auf, die babylonische Liebespriesterin als klassische Monroe-Blondine mit Kostüm und Pumps. Die Sintflut, die Tammu traumatisch heimsucht, wird als Visuals, die den gesamten Bühnenrahmen ausfüllen, präsentiert. Gigantische Destruktions-Illuminationen finden statt (grandios generiert von Astrid Steiner).

Die vorherrschende Aufgeräumtheit und Reduzierung in Handlungsführung und Requisite bekommt dem Stück und seiner auf zeitgenössische Stimmungslagen gerichteten Tendenz sehr gut. Blass in der Erscheinung blieben allerdings das babylonische Phalloi- und Vulvenseptett, das zu Stewardessen-Uniformität geschrumpft ist, aber so sicher besser in den Neo-Puritanismus des Geists der Zeit passt.

Trotzdem: die unaufwändige und unbunte Kostümierung (wie immer exzellent Andrea Schmitt-Futterer) erzeugt Strenge und eine fast rituelle Stilisierung, die die Sache trifft. Ein Glücksfall ist es, dass das durch seine vielfältigen Anspielungen und Höhenlagen zu Regieeinfällen einladende Libretto die Regie nicht in Versuchung geführt hat, die Puppen tanzen zu lassen. So kommt doch etwas von der schönen Balance zum Tragen, die Sloterdijk zwischen den Spannungen und Korrespondenzen der Antagonisten wahrt. Auch von der Könnerschaft, mit der man sich antikisierender Rede bedient als einer Art kommunikativen Re-Designs.

Die Musik Widmanns stört da manchmal regelrecht, denn die Tendenz des 49-jährigen Komponisten, den Grundsatz des Weniger-ist-mehr zu vernachlässigen, führt zu Abstumpfung. Zu lange und zu oft wird aus allen instrumentalen Quellen ein Höchstmaß an Ausstoß zu Tage gefördert. Dräuender Klangbrei ist das Ergebnis. Das Einrühren von immer noch mehr Ingredienzen lässt wenig distinkte Eindrücke zu und legt sich wie Mehltau über alles.

Man muss die orchestralen und stimmlichen Leistungen um so mehr würdigen: die perfekt getroffenen, extremen Koloraturen von Sarah Traubel als Liebespriesterin Inanna, den runden und hellen, ganz freien Sopran der „Seele“ von Michelle Ryan, die feinen tenoralen Phrasen des Tammu von Leonardo Ferrando, Claudio Otellis gedeckten Bariton und seine gefasste Haltung als Priesterkönig. Markant in seiner extrovertierten Stimmführung und Körpersprache als „Schwester Tod“ Otto Katzameier. Volltönend und deutlich der Alt Andrea Bakers als singender Fluss Euphrat. Die kleineren Rollen ließen keine Wünsche offen. Brillant der mit schwieriger, auch solistischer Artikulation befasste Chor. Höchste Souveränität am Pult ging von Albert Horne aus, der das wahrhaft geforderte Orchester auf blendende Weise entsprach.

Staatstheater Wiesbaden: 14. Mai, 1., 11., 19. Juni, 14. Juli. www.staatstheater-wiesbaden.de

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