Der neue «Ring» am Opernhaus Zürich: Erklär mir die Welt, aber deute sie nicht

Mit der Premiere von «Rheingold» beginnt eine Neuproduktion von Richard Wagners Zyklus «Der Ring des Nibelungen», die erste in Zürich seit zwanzig Jahren. Wohin die Reise bei der Regie geht, bleibt noch unklar, aber im Orchestergraben gibt es ein vielversprechendes Konzept.

Christian Wildhagen 5 min
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Wotan (Tomasz Konieczny) hat Alberich (Christopher Purves) den Ring entrissen, der seinem Träger masslose Macht verleiht. Lange wird er allerdings nicht in den Händen des Göttervaters bleiben.

Wotan (Tomasz Konieczny) hat Alberich (Christopher Purves) den Ring entrissen, der seinem Träger masslose Macht verleiht. Lange wird er allerdings nicht in den Händen des Göttervaters bleiben.

Monika Rittershaus /
Opernhaus Zürich

Die Welt ist eine Burg, und diese dreht sich unablässig. Sie steht vermutlich auf halbem Weg zwischen Zürich und Luzern, doch Genaueres erfahren wir vorerst nicht. Strenggenommen sehen wir von der stolzen Alpenfestung nur ein paar Zimmerfluchten, klinisch weiss und mit den immergleichen, dreieckigen Räumen; darin ein Bett, ein magischer Schrank, ein Bild und einige Klumpen falschen Goldes – fertig ist das Rezept, um den Anfang und das nahende Ende der Zivilisation zu erklären.

Auf diese schlichte Formel, leicht surreal und deshalb auch ein wenig irritierend, lässt sich das szenische Grundkonzept beim Auftakt zum neuen Zürcher «Ring»-Zyklus bringen. Mit der Premiere des Vorabends «Das Rheingold» beginnt hier die Neuinszenierung von Richard Wagners vierteiligem Weltendrama – die erste seit zwanzig Jahren. Auch diese lange Latenz irritiert, schliesslich sind weite Teile dieses Opus summum des Musiktheaters nur wenige hundert Meter entfernt vom heutigen Opernhaus entstanden.

Der Wunsch nach einer neuen Deutung der Tetralogie bestand auch deshalb umso dringlicher, als kaum jemand wirklich glücklich war mit der bis 2002 realisierten Vorgängerproduktion von Robert Wilson. Der amerikanische Theatermagier hatte das komplexe Spiel um Liebe, Macht und Verrat vornehmlich in schöne Bilder übersetzt, sich aber der Interpretation weitgehend enthalten. Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses, will nun mit einer bis zur Saison 2023/24 geplanten Neuinszenierung Abhilfe schaffen und zugleich seine Zürcher Ära krönen. Allerdings – und das ist die dritte Irritation – hat auch Homoki angekündigt, auf Interpretation im hergebrachten Sinne zu verzichten.

Besinnung aufs Theater

Tatsächlich ist kein anderes Werk der Operngeschichte dermassen mit Deutung befrachtet worden wie «Der Ring des Nibelungen». Von der zugespitzten Macht- und Kapitalismuskritik über faschistische und sozialistische Verbiegungen bis zu Untergangsparabeln angesichts der fortschreitenden Naturzerstörung hat man schon allerhand gesehen, darunter manch Kluges und Richtiges, aber ebenso viel Abwegiges.

Die Idee, das Riesenstück gleichsam auf seinen Kern als hoch theatralisches «Bühnenfestspiel» (so der Untertitel) zurückzuführen, liegt da durchaus nahe. Sie ist ein legitimer, in jüngster Zeit auffallend häufig genutzter Ausweg aus dem Überangebot an Deutungen. Sie enthält freilich auch das Eingeständnis, dass man den einen universalen Schlüssel, also einen zeitgemässen oder gar zeitgeistigen Zugang zu Wagners Welterklärungsspektakel, nicht gefunden hat – oder nicht finden wollte. Dass es einen solchen nicht mehr gäbe, darf man angesichts der neuerdings wieder ideologisch verschärften Gegensätze in der Welt bezweifeln.

Die Riesen Fasolt und Fafner (David Soar und Oleg Davydov, auf dem Bild) fordern den vereinbarten Lohn für die Errichtung der Götterburg Walhall.

Die Riesen Fasolt und Fafner (David Soar und Oleg Davydov, auf dem Bild) fordern den vereinbarten Lohn für die Errichtung der Götterburg Walhall.

Monika Rittershaus /
Opernhaus Zürich

Bei Homoki und seinem Ausstatter Christian Schmidt gibt es allerdings kaum Bezugnahmen auf Aktuelles – sie wären ja eine über den Werktext hinausweisende Deutung. Nur mit dem überlangen Tisch, an dem der Göttervater Wotan und seine Mitgötter in der Schlussszene zu einer Art Familienaufstellung Platz nehmen, gestattet sich das Regieteam möglicherweise eine Anspielung auf vergleichbar monströses Mobiliar, das jüngst im Kreml zu sehen war. Im Übrigen macht man jedoch Ernst mit dem Vorsatz, das Geschehen in einen eher abstrakten Rahmen zu entrücken.

Zeitlos sind sie dennoch nicht, die vier nahezu identischen Spiel-Räume mit jeweils zwei Durchgängen zum Nebenzimmer und einem Fenster in der Mitte, die wohl das Innere der Götterburg Walhall darstellen und während des ganzen Abends auf der Drehbühne kreisen. Ihr Interieur, aber auch Schmidts elegante Kostüme verweisen auf das 19. Jahrhundert, also die Wagner-Zeit. Schon das ist eine eindeutige Verortung, mit anderen Worten: eine Interpretation. Doch der damit aufgerufene historische Kontext entfaltet in diesem ersten Teil noch keine klare Bedeutungsebene.

Ein Monster aus dem Schrank: Alberich kann Loge (Matthias Klink, links) und Wotan (Tomasz Konieczny) mit seiner Verwandlung in einen Drachen nicht so recht erschrecken.

Ein Monster aus dem Schrank: Alberich kann Loge (Matthias Klink, links) und Wotan (Tomasz Konieczny) mit seiner Verwandlung in einen Drachen nicht so recht erschrecken.

Monika Rittershaus /
Opernhaus Zürich

Homoki nutzt den ästhetisch stilisierten Rahmen vielmehr, um darin die Handlung in sehr präzise und dicht gearbeiteten Schauspielszenen zu entwickeln. Er zeigt die Geschichte vom Raub des mythischen Goldes aus den Tiefen des Rheins und vom daraus entstehenden Kreislauf aus Machtgier, Betrug und Gewalt als naturalistisches Konversationsstück, näher bei Ibsen und Strindberg als beim Symbolismus. Das lässt die Momente des Phantastischen, etwa das Erscheinen eines Drachen aus dem besagten Schrank, wie Brechungen wirken und setzt bei diesem durchaus auch sehr komischen Stück willkommene ironische Akzente.

Die darstellerischen Anforderungen an die Sänger werden dadurch indes noch höher. Wirklich plastische und packende Rollenporträts gelingen am Premierenabend erst dem Bayreuth-gestählten Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Mime und dem spielerisch unablässig präsenten Matthias Klink als Feuergott Loge, den Klink zur schillerndsten Figur dieses ersten «Ring»-Teils macht. Auch Christopher Purves wird für sein furioses Rollendebüt als zwielichtiger Alberich zu Recht gefeiert. Neben Ablinger-Sperrhacke ist Purves der Einzige, der die konsonantenreiche Stabreim-Dichtung Wagners («Mit Golde gekirrt, / nach Gold nur sollt ihr noch gieren!») als deklamatorisches Klang- und Ausdrucksmittel einzusetzen weiss.

Loge (Matthias Klink) wechselt gern die Seiten, wenn es sein muss, jedenfalls zeigt er viel Verständnis für den zwielichtigen Nibelungenfürsten Alberich (Christopher Purves, links).

Loge (Matthias Klink) wechselt gern die Seiten, wenn es sein muss, jedenfalls zeigt er viel Verständnis für den zwielichtigen Nibelungenfürsten Alberich (Christopher Purves, links).

Monika Rittershaus /
Opernhaus Zürich

Der eigentlich rollenerfahrene Tomasz Konieczny bleibt als Wotan dagegen noch zu blass. Er presst die hohen Töne, arbeitet selten mit der Sprache und beherrscht die Szene zu wenig – was allerdings auch daran liegt, dass die Inszenierung mit dem Taschenspieler Loge weit mehr anzufangen weiss als mit dem moralisch strauchelnden Götterchef. Dessen himmlische Verwandtschaft ist solide besetzt, bleibt aber – wohl auch wegen zahlreicher Haus- und Rollendebüts – zu zahm und unprofiliert. Im Ganzen muss sich das Niveau auf der Bühne noch erheblich steigern, will man sich in Zürich nicht bloss mit gehobenem Stadttheater begnügen.

Lust auf die Fortsetzung

Weit mehr als das bietet schon jetzt der Mann im Graben, Gianandrea Noseda. Der neue Generalmusikdirektor ist zwar ebenfalls ein «Ring»-Debütant, doch er hat mit der Philharmonia Zürich hörbar einen bereits sehr stimmigen und obendrein eigenständigen Zugang zu Wagner entwickelt. Wer dabei auf die in Bayreuth üblichen Klanggewitter hofft, wird enttäuscht. Nosedas Wagner ist dynamisch abgewogen und klingt angenehm zivilisiert; dennoch schöpft Noseda die gesamte Bandbreite im Leisen wie im Lauten aus, ohne die Sänger zu überdecken.

Statt der gewohnten Dominanz des Blechs hört man subtil aufeinander abgestimmte Holzbläserlinien, prägnant eingesetzte Instrumentalfarben (etwa die Tuba in der Szene mit dem Drachenwurm) und nicht zuletzt zahllose Feinheiten in den Streichern. Selten ist ein Dirigent auf Anhieb so gut mit der topfigen, trockenen Akustik des Zürcher Opernhauses zurechtgekommen.

Nosedas Tempi sind durchweg fliessend, manche sogar ungewöhnlich schnell. Übergänge werden nicht zerdehnt, und in Entsprechung zur Inszenierung wird auch nicht jeder Moment mit Bedeutung überladen. Noseda gestaltet die zweieinhalb Stunden Musik als sinfonischen Erzählstrom, nicht als Abfolge von Einzelereignissen. Dazu passt, dass er auch die berühmten Leitmotive nicht plakativ-zeichenhaft ausstellt, sondern sie melodisch singen und sich entfalten lässt. Dieser Ansatz macht schon jetzt Lust auf die Fortsetzung, die mit der Premiere der «Walküre» am 18. September 2022 ansteht.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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