Gegen Ende der 1990er Jahre landete die Staatsoper Stuttgart mit ihrem neuen Ring-Zyklus einen Coup. Jeder der vier Teile der Tetralogie wurde von einem anderen Regisseur inszeniert. Was heute gang und gäbe ist, galt damals als Novum und noch immer spricht man vom legendären „Stuttgarter Ring“. Nun wagt sich das Opernhaus noch einen Schritt weiter, indem es nicht nur zum wiederholten Male den Ring des Nibelungen von vier verschiedenen Regieteams erzählen lässt, in der Walküre wird gar jeder Akt als Inszenierung eines anderen Regisseurs, einer Regisseurin bzw. eines Künstlerkollektivs entstehen. Viele Künstler*innen waren an diesem Projekt beteiligt, sodass ein Gesamtkunstwerk der etwas anderen Art kreiert wurde.

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Simone Schneider (Sieglinde) und Michael König (Siegmund)
© Martin Sigmund

Der erste Akt wurde dem niederländischen Künstlerkollektiv Hotel Modern anvertraut, die in ihren Arbeiten oft animierte Miniaturwelten gestalten und deren Elemente auch hier anwenden. Im Hintergrund wird groß projiziert, was die Künstler*innen in ihren Miniaturwelten der links und rechts auf der Bühne platzierten Modelle filmen. Präsentiert wird hier eine postapokalyptische, kriegsgebeutelte Welt, in der kaum Leben mehr möglich zu sein scheint – nur die Ratten als nicht auszurottende Schadnager haben es geschafft, zu überleben.

Und so hastet Siegmund als Ratte über die Bühne, lässt dabei so manchen an den legendären Neuenfels-Lohengrin denken, und sucht in Hundings Hütte Zuflucht. Illustriert wird dies in aufwendiger Arbeit mit Slider-Fahrten durch die Miniaturmodelle und den liebevoll anmutenden, detailverliebten Effekten von drei Künstler*innen, die stets auf der Bühne präsent sind. Leider wird aus dem intimen, leidenschaftlichen Kammerspiel des ersten Akts ein Nachmittag in der Kreativwerkstatt, in dem das Geschehen zu einer einzigen Umbauarbeit verkommt und oftmals vom Gesang ablenkt.

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Michael König (Siegmund), Simone Schneider (Sieglinde) und Goran Jurić (Hunding)
© Martin Sigmund

Siegmund und Sieglinde finden schließlich inmitten dieser lebensfeindlichen Landschaften zu einem poetisch illustrierten Neuanfang. Doch statt glühender und erotisch aufgeladener Stimmung wird ein übergroßes Schwert zwischen den beiden in den Bühnenboden gesteckt – der subtile Wink mit dem Zaunpfahl wird zum Vorschlaghammer, das dem Publikum nicht deutlicher hätte zeigen können, was passiert, wenn sich der Vorhang senkt.

Spätestens seit dem langen Winter-Lockdown ist evident, dass treue Opernzuschauer*innen es leid sind, nur digitale Angebote wahrzunehmen und alleweil auf Bildschirme zu starren; stattdessen sehnsüchtig die Wiederöffnung der Opernhäuser erwarteten. Dass in der Inszenierung von Hotel Modern statt Nutzung der großen Stuttgarter Bühne auf eine Leinwand projizierte Miniaturwelt geschaffen wird, wirft Fragen auf, warum das Medium Oper in seinen Möglichkeiten nicht voll ausgeschöpft wird.

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Simone Schneider (Sieglinde) und Michael König (Siegmund)
© Martin Sigmund

Der Lichtdesigner Urs Schönebaum schafft aus dem zweiten Akt einen düsteren Historienthriller. Seine überaus filmische Erzählweise ergänzt er auch szenisch mit zugänglicher Personenführung und eindeutiger Darstellung – alles geprägt von einem stimmigen Einsatz von Licht und Schatten. Die oft karge, nebelverhangene Bühne wird durch mehrere große Säulen aus Speeren bevölkert, die mal einen Grenzwall, mal Bäume in einem klaustrophoben Wald oder aber die Waffen der in Walhall heimischen Krieger darstellen. Seine von ihm geschaffene trist-düstere Welt, kann durchaus an die Dystopie des ersten Akts anknüpfen. Wotan und die Krieger verwandelt er in einen verschwörerischen Geheimbund und unterstreicht so die archaischen Figuren und die Fehde zwischen Schwarzalberich und Lichtalberich, hell und dunkel, Gut und Böse – einfach aber wirkungsvoll.

Die für Konzept und Raum des 3. Aufzuges verantwortliche Künstlerin Ulla von Brandenburg taucht die Bühne mit komplementären Blockfarben und organischen Linien in ein fließendes Farbenmeer. Dieses Tableau Vivant erfüllte höchste ästhetische Ansprüche, dennoch vermisst man eine tiefgreifendere Umsetzung ihrer Interpretationsansätze über die Individualität der Walküren, ihren Persönlichkeiten als Kriegerjungfrauen und der Ganzheit dieser Gruppe.

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Okka von der Damerau (Brünnhilde)
© Martin Sigmund

Die Walküre ist wohl jener Teil des Rings, in dem die Figuren am meisten in Leidenschaft, entfesselter, inbrünstiger Lust und triebhaften Wollen agieren, so verwundert es, dass – ohne Absprache der Regisseur*innen – die Hauptfiguren in allen drei Inszenierungen sehr statisch, manchmal gar passiv und in sich gefangen reagieren. Vergebens sucht man große Emotionen und Gefühlsausbrüche.

Während die szenischen Elemente die Aufzüge stark voneinander trennen, sind es die hervorragenden sängerischen Leistungen, die das Drama zusammenhalten und verbinden. Michael König beeindruckte als Siegmund mit charaktervoll herber, viriler und reifer Tenorstimme und vermochte die leidenschaftlichen Empfindungen in subtile Gesten und eindringliche Deklamation zu übersetzen. Goran Jurić wartete dagegen mit ungewöhnlicher Gestaltung, mitunter langgezogenen Vokalen und einer sehr freien Interpretation der Gesangslinien Hundings auf. Der amerikanische Bariton Brian Mulligan gestaltete Wotan mit ungewöhnlich warmer Stimme, einem feinem Vibrato und vermochte so seinen Charakter auf die jeweilige Inszenierung differenziert einzustellen – kaltblütiger Göttervater im zweiten Aufzug und von Zerrissenheit geplagter, liebender Vater im letzten Akt. Ihm gegenüber stand Annika Schlicht, eine erfahrene Fricka-Interpretin, deren hochdramatische Artikulation, jeder Silbe Bedeutung einhauchend, vollends begeisterte.

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Die Walküren
© Martin Sigmund

Kaum eine kann die Rolle der Sieglinde auf so vollendete, stimmlich packende und mitfühlende Art darstellen, wie Simone Schneider dies tat. Trotz statischer Regie vermochte sie die Zwillingsschwester auf verletzliche Art zu interpretieren. Dem gegenüber stand ihr raumfüllender, lyrisch-warmer Sopran den sie mit perfekter Aussprache ergänzte.

Lang fieberte man dem Brünnhilde-Debüt von Okka von der Damerau entgegen. Die Sängerin, die vor ein paar Jahren noch in Mezzo-Rollen wie Erda, Ortrud oder Brangäne überzeugte, zeigte nun, welche Register ihre Stimme zu erreichen in der Lage ist. Bereits ihr erstes „Hojotoho“ ließ jegliche Zweifel fahren und stattdessen hörte man eine Brünnhilde, die mit kraftvoller, zugleich klarer und perfekter Phrasierung die Rolle fürs Leben gefunden hat!

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Okka von der Damerau (Brünnhilde) und Brian Mulligan (Wotan)
© Martin Sigmund

Das Staatsorchester Stuttgart unter Leitung Cornelius Meisters vermochte mit seiner Interpretation sowohl Transparenz als auch einen homogenen, dramatisch ansprechenden Orchesterklang zu schaffen. Das saubere, wohl intonierte Blech, das Solo-Cello im ersten Akt und die kraftvoll tönenden Harfen aus den beidem Seitenlogen im ersten Rang hielten den Abend mit dieser detailreichen Ausführung mit dynamischen und Tempi-Abstufungen zusammen.

Eine Oper, drei Akte, drei Regiearbeiten – kann daraus ein Gesamtkunstwerk entstehen oder bleibt es ein großes Fragmentarium? Während die Dekonstruktion des Rings im 21. Jahrhundert bereits oft praktiziert wurde, scheint die Dekonstruktion dieser Walküre wenig erhellend zu sein. Man mag die Staatsoper Stuttgart erneut für ihren Mut, Neues zu schaffen, beglückwünschen, doch dass diese Idee Nachahmer findet, sollte man lieber nicht hoffen.

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